Perspektiven für kirchliche Arbeit in ländlichen Räumen – 14 Denk-Gebote
Neben Problemanalyse, ekklesiologischer Grundlegung und ersten Lösungsansätzen sollen hier einige der genannten Gedanken gebündelt werden, um sie zu einem eigenen Lösungsansatz zusammenzustellen. Dies geschieht – nicht symbolträchtig – in Form von 14 Perspektiven oder Denk-Geboten.
Dass Veränderung im Kopf beginnt, aber nicht darauf beschränkt ist, gilt auch hier. Theologisch gesprochen geht es um metanoía (Umkehr) in ihrer ureigensten Bedeutung, d.h. um Richtungsänderung, weg von einem Weg, der in die Irre, ins Verderben führt.[1] Die Herausforderung der folgenden Perspektiven besteht darin, sich ihnen in ihrer Gesamtheit auszusetzen. Einzelne Elemente auszuwählen und umzusetzen, mag die eine oder andere Gemeinde als probate Bereicherung empfinden, quasi als einen Schritt in die richtige Richtung. Jedoch wird ein derartiger Umgang damit weiterhin dazu führen, dass lediglich an der Oberfläche der allseits bekannten Symptome des demografischen Wandels herumlaboriert wird.
Mir ist bewusst, dass diese Perspektiven landeskirchlichen Verantwortlichen aller Ebenen viel abverlangen. Nach vielen Gesprächen mit Kirchenvertretern – aus Gemeinden und Kirchenverwaltungen verschiedenster Fachgebiete – ist mir jedoch genauso bewusst, dass viele, scheinbar unverrückbare kirchliche Ordnungen und Einrichtungen einen wesentlich größeren Gestaltungsspielraum bieten als allgemein angenommen. Es kommt also auf den Versuch an.
1. Den Blick auf den Helfer lenken, nicht auf die Berge (vgl. Ps. 121)
Am Anfang steht der Blick auf den Herrn der Kirche. Es ist seine Gemeinde, nicht unsere. Der Beschäftigung mit Gemeinde(umbau)literatur wohnt erfahrungsgemäß die Gefahr inne, sich in der innerweltlichen Dimension zu verlieren. So gesehen wäre auch diese Arbeit missverstanden, wollte man sie auf operationalisierbare Reformvorschläge reduzieren. Auch Gemeindebau und Gemeindeentwicklung haben ihren Platz unter dem göttlichen Verdikt der Rechtfertigung: Gott schafft, die Menschen werden in sein Wirken hineingenommen.[3] Unter dieser Prämisse entspricht ein überbordendes Verantwortungsgefühl für die Entwicklung der „eigenen“ Gemeinde zwar dem protestantischen (und vor allem reformierten) Arbeitsethos; oft überfordern sich Haupt- und Ehrenamtliche jedoch mit der Vorstellung, ohne sie liefe nichts.[4]
So hat sich Gott Gemeindearbeit nicht gedacht. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass, wie Magnus Malm schreibt, alle Erneuerung mit der Wiederentdeckung Gottes beginnt.[5] Damit ist auch die Diskussion über geeignete kirchliche Strukturen zuerst eine spirituelle, dann eine theologische, sodann eine kerygmatische und zuletzt eine strukturelle Aufgabe.
2. Eine ehrliche Diagnose wagen
Die Genesung von einer Krankheit beginnt mit der ehrlichen Diagnose. Entsprechend muss sich „Kirche“[6] informieren und vor allem ihre Schwächen diagnostizieren (lassen). Im Rahmen dieser Arbeit ist dies reichhaltig, wenn auch nicht allumfassend, unter dem Thema des demografischen Wandels geschehen. A und O sind hier aktuelle, valide Statistiken mit Aussagekraft.
Dass die Art der Datenerhebung zu einem überhöhten Besucher-Durchschnitt führt, ist das eine. Dass die EKD- und Landeskirchen-Leitungen mit 3% bis 5% Prozent Engagement ihrer Mitglieder zufrieden sind, auch. Dass aber dieser Prozent-Satz (weder der erwünschte noch der tatsächliche) über die letzten 40 Jahre nicht signifikant gestiegen ist – was ja zu erwarten wäre, da bzw. wenn vor allem die Nichtaktiven austreten –, sollte sehr zum Nachdenken Anlass geben.
Erstens: So sehr eine Fokussierung auf quantitatives Gemeindewachstum mit Recht kritisiert wird,[7] führt eine Ablehnung dieses Indikators für gemeindliche Gesundheit ebenfalls ins Leere: Gemeinden ohne den Wunsch und Willen zu wachsen fehlt eine entscheidende Zielorientierung (wenngleich dies auch nicht alles ist).[8]
Zweitens: Gemeinden, die an einer ehrlichen Bestandsaufnahme, z.B. des Gottesdienstbesuches, interessiert sind, können ohne viel Mehraufwand mit einer eigenen Buchführung abseits der Zählsonntage beginnen. Oder sie können diese Erhebung mit eigenen, aussagekräftigen Schwerpunkten versehen.[9]
3. Den Primat der Ortsgemeinde wiederherstellen
Die von Douglass formulierte „11. Aufgabe der Kirche“[10] hat auch angesichts des demografischen Wandels nichts von ihrer Aktualität eingebüßt:
- Die Ortsgemeinde ist die entscheidende, weil organische Größe christlicher Gemeinschaft.
- Die Ortsgemeinde hat die beste Feldkompetenz, um über ihre eigene Wirksamkeit, Chancen und Grenzen zu urteilen. Eine Bottom-up-Planung ist zielführender als ein One-Size-Fits-All-Konzept der Kirchenleitungen. Sollte sie gravierende Mängel und Bedarfe spüren, sucht sie sich Beratung und Unterstützung. Erfolgreiche Kooperationen erfolgen nur freiwillig, nicht gezwungen. „Let them find their partners“ kann auch hierzulande als Leitlinie dienen.[11] Die Ortsgemeinde ist die für Haupt- und Ehrenamtliche am leichtesten zu steuernde Größe. Niemand, auch keine kooperierende Mutter-Gemeinde, hat ein ähnlich gutes Gespür für Stärken und Bedarfe des Ortes. Das verschafft ihr eine prophetische Last für den Ort und wo nötig schnelles und wirksames Engagement.
Eine kategorische Ablehnung von Fusion und Synergieeffekten, wie von Douglas 1997 gefordert, ist sicher im Einzelfall zu bewerten.[12] Bei allen Schrumpfungsdiskussionen darf nicht vergessen werden, dass selbst Rückzug nie irreversibel ist. Gerade durch Fresh X ist der Kirche mehr Freiraum erwachsen, um neue Formen von Kirche auszuprobieren, als früher.
4. Die Gemeindeentwicklung vom Pfarrer-Dienst abkoppeln
Gemeinden dürfen sich nicht auf ihren Pfründen – Personal, Gebäude, Programme und Budget – ausruhen, wenn sie sich weiterentwickeln wollen. Diese Elemente verführen dazu, sich zurückzulehnen und entspannt die Bedienung durch „die Kirche“ und „den Hauptamtlichen“ zu genießen. Diese Haltung konterkariert das biblische Verständnis vom Körper und seinen Teilen aus Röm 12; 1Kor. 12. Um hier wieder zur ursprünglichen Zuordnung von Haupt- und Ehrenamtlichen zurückzufinden, müssen Pfarrer und Leitungsgremien das Thema theologisch erarbeiten.
„Kirchengemeinderat und Pfarrerin/Pfarrer leiten gemeinsam die Gemeinde.“[13] Dieser Satz formuliert die Zielmarke für die Zuordnung von ehrenamtlicher und hauptamtlicher Leitung in der Gemeinde: Der KGR ist die leitende Instanz in der Gemeinde, und der Pfarrer ebenso. Die Ordination zum Pfarrer bewirkt jedoch keine Leitungs- und Verkündigungsgabe per se. Somit hebt sich der Pfarrer von nichtordinierten Mitchristen zwar durch seine theologische Kompetenz ab, aber die Ordination ins Pfarramt sorgt entgegen der landläufigen Meinung nicht für Geistesgabenhäufung.
Wer zum Leiten berufen ist, der leite. (Röm 12,8). Gemeinde ist auch ohne Pfarrer vor Ort vollgültige Gemeinde; dies gilt auch in Zeiten der Vakanz, die unsere Gemeinden in steigendem Maße bestimmen werden. Schon darum ist es geboten, Gemeindeentwicklung unabhängiger vom Pfarrdienst zu denken; und zwar in ländlichen Räumen um so mehr.
Pfarrern muss indessen die Demut abverlangt werden, ihrer Stellung in Kirche und Gemeinde den besonderen Nimbus zu nehmen und sich verstärkt als in die Gemeinde eingebettet zu betrachten, was gerade in ländlichen Räumen noch einen langen, aber lohnenden Weg bedeuten kann. Gemeinden, die in Zeiten des Pfarrer-Rückgangs gegen den Trend wachsen wollen, dürfen es wagen, Gemeindearbeit mit „weniger Pfarrer“ zu denken: Ein zielführendes Job-Design sorgt dafür, dass weder Ehrenamtliche noch Pfarrer zum Lückenfüller im Gemeindeprogramm werden, „sondern dass jeder darin Erfüllung findet, dass er seine Gaben freudig einsetzt, zum Nutzen aller“.[14] Dass vermehrt über „Gottesdienste ohne Pfarrer“, Gemeindearbeit ohne Hauptamtliche usw. geschrieben wird, ist zwar wenig erfreulich für dieselben, scheint der Pfarrer doch entbehrlich, muss aber der Weg sein, der ausdrücklich in Angriff zu nehmen ist, weil er auf das künftige Szenario am besten vorbereitet.
5. Den Blick für den Kern der Pfarrer-Aufgaben schärfen
In Zeiten der Rationalisierung in der Kirche[15] ist es erstens nicht nur nötig, nach dem „Unaufgebbaren der Kirche“ (Herbst) zu fragen, sondern es ist geradezu geboten, auch nach dem Kern pfarramtlicher Arbeit zu fragen. Trotz PC-gestützter Verwaltungsabläufe versinken die Pfarrer eigenen Angaben zufolge in administrativen Tätigkeiten. Eine Neuorientierung – auch abseits personeller Engpässe – tut dringend not.
Zweitens ist durch nicht definierte, daher scheinbar endlos ausdehnbare Arbeitszeiten der Zwang zur Aufgabenpriorisierung weithin nur schwach ausgeprägt. Entsprechend bewirken Vakanzen, Vertretungen, Notfallseelsorge eine weitere geduldete Zunahme von Arbeitszeit. Allein die Problematik des freien Tages mit seinen mannigfachen Implikationenen ist ein übermächtiges Thema.[16] In diesem Zusammenhang ist eine (Wieder-)Aufnahme berufständischer – auch theologischer – Reflexion über die pfarramtliche Identität mit zu bedenken. Pfarrer mit 10-Tage-Woche, 24/7-Verfügbarkeit u.a. sind mit einem Gott als oberstem Dienstherrn, der sich selbst einen Sabbat (d.h. „aufhören“) in sieben Tagen gönnte (1Mo. 1), nicht zusammenzudenken. Das muss im Rahmen von Personalgesprächen und Visitationen zum Thema gemacht werden.
Diese Gravamina sind keineswegs neu, jedoch steht die umfassende theologische Bearbeitung des Themas immer noch aus. Der Schlüssel liegt m.E. in der vernachlässigten Unterscheidung von Kirche und Reich Gottes. Dem Zitat „Ein Christ (Pfarrer) ist immer im Dienst“ muss entgegengehalten werden: „Ja, ein Pfarrer ist immer im Dienst.“
Schon früher, aber vor allem jetzt, angesichts einer wachsenden pfarramtlichen Ausdünnung, funktioniert das Bild vom für alles zuständigen Pfarrer nicht mehr. Statt dessen wachsen der Rolle Ausbildung, Einsatz und Förderung von Ehrenamtlichen zu. Der Pfarrer der Gegenwart und Zukunft ist daher mehr Ausbilder als Verkündiger, wieder mehr geistlicher Begleiter als Gemeindemanager. Der Pfarrer ist für die aktive Gemeinde da, und die aktive Gemeinde für ihre Mitmenschen. Es wird Demut bedeuten, wenn Pfarrer diese Funktion ausfüllen und vermehrt als primus inter pares im Team und vielleicht weniger prominent agieren. Und es wird Christen andererseits ein Weniger an Anspruchsdenken abverlangen, damit beide Seiten, KGR und Pfarrer gedeihlich miteinander arbeiten und sich vernetzen können.
6. Die Gemeindeentwicklung vom „Pfarrer vor Ort“ trennen
Dem Gesagten ist hinzuzufügen: Nur wenn Pfarrer vor Ort und Souveränität von Kirchengemeinden getrennt gedacht werden, wachsen Gemeindegrößen nicht ins Unermessliche. Kirche wird sich daran gewöhnen (müssen), dass vermehrt Gemeinden keinen Pfarrer vor Ort mehr haben. Daran werden auch Fusionen nichts ändern. Daher sollte man den Gemeinden ihre Eigenständigkeit lassen, so lange es geht.[17]
7. Von den „Laien“ wertschätzend reden
Im Rückgriff auf das Kapitel 5 zur Ekklesiologie plädiere ich für eine konsequente Vermeidung des Begriffs „Laie“, auch bei fachlichen Übersetzungen aus dem Englischen. Eine dadurch suggerierte Unterteilung in Glaubens-Profis und Glaubens-Amateure hat der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch bei der Herausbildung mündiger Christen mehr geschadet als genutzt. Inwieweit hier Fragen nach Macht, Rechenschaft auch und gerade im KGR berührt werden, ist an anderer Stelle zu klären.
Zusätzlich zum semantischen Problemfeld bedarf es einer intensiven Reflexion über die Stellung der sogenannten Laien: Sind sie unentgeltliche Mitarbeiter oder Lückenbüßer? Wer Ehrenamtliche wertschätzt, muss in guten Zeiten damit anfangen, sie nicht nur an den Aufgaben, sondern auch an der Verantwortung zu beteiligen.
8. Predigen soll, wer predigen kann
Damit ist der gedankliche Weg zum Allgemeinen Predigtdienst aller Begabten nicht mehr weit. Gemeinden und Hauptamtliche, die sich darauf einlassen, werden davon profitieren: Während im normalen Gemeindeleben (viele) Pfarrer unter der Last allwöchentlicher Predigtvorbereitung stöhnen, ist es nötig, sich von einer Engführung in puncto Verkündiger zu verabschieden:
Gemäß CA 14 sollen nur Christen mit „ordnungsgemäßer Berufung“ predigen und die Sakramente reichen. Dem ist zuzustimmen. Neben der Prädikantenausbildung, die in manchen Landeskirchen paradoxerweise nicht zum Predigen in der eigenen Gemeinde berechtigt,[18] ist ein Verfahren anzustreben, wodurch die örtliche Gemeindeleitung nach Übereinkunft begabte und geeignete Menschen auf eine einzurichtende persona-grata-Liste setzt, denen sie bescheinigt, das Evangelium rein und verständlich zu verkündigen. Natürlich sind Vorbereitung und Begleitung durch ein niederschwelliges Kurssystem nötig.[19] Oder – wieso auch nicht? – Gemeinden und Landeskirchen tun sich zusammen mit kirchennahen Kursanbietern und nutzen deren bewährte Schulungskonzepte mit. Eine Diversifizierung der predigenden Mitarbeiter kann nur von Vorteil sein, und auf die Dauer profitieren alle Seiten.
9. Erprobungsräume schaffen
Systeme verfügen über erstaunliche Selbstheilungs- und Lösungskräfte. Teams, Familien und Organisationen wissen oft sehr gut, was sie im Kern brauchen, um Krisen bewältigen zu können. Manchmal reicht es bereits aus, lediglich ein oder zwei Parameter im Setting zu verändern. Nichts anderes schlägt das Berlin-Institut für perspektivlose Dörfer und Kommunen in ländlich-peripheren Räumen vor, wenn es deren Abkopplung von den im übrigen Deutschland geltenden verwaltungsrechtlichen Regeln und Strukturen postuliert.
Kirche kann davon lernen, sterbende Ortsgemeinden und überforderte Bezirke von den üblicherweise geltenden Vorschriften und Strukturen abzukoppeln und das Gesetz des Handelns auf die Ortsebene zu übertragen, ihnen prioritär Unterstützung beim Lösen ihrer Probleme zuzusagen – und es dennoch zu befürworten, wenn sich diese Regionen Hilfe von dritter Seite besorgen; vorausgesetzt, es geschieht zielführend. Das in den östlichen Landeskirchen entwickelte Konzept der Erprobungsregionen ist hier richtungsweisend.
Die Selbststeuerung von Erprobungsregionen kann nichtsdestotrotz die Schließung von Gemeinden bedeuten. Gleichzeitig können die Verantwortlichen Neugründungen innerhalb ihrer Regionen projektieren.[20] Es scheint nötig, zu betonen, dass ein derartiger Weg auch die Bereitschaft zur Diversifizierung von Gemeindeformen und –strukturen mit sich bringen muss. Wilfried Härle dazu:
Angesichts der Verschiedenheit der neutestamentlichen Aussagen über die Funktionen der Presbyter, Bischöfe, Vorsteher etc. […] kann nicht erwartet werden, daß diese aus dem Wesen der Kirche systematisch abgeleiteten Aufgaben überall in gleicher Weise gesehen und verwirklicht werden, wo der Dienst der Leitung geschieht.[21]
10. Think Tanks initiieren, fördern und vernetzen
Dieses Denk-Gebot ist dem vorigen sehr ähnlich. Allerdings plädiere ich hier, grundsätzlicher, für die Gründung interdisziplinärer Think Tanks, die jeweils für eine Region, ein Bundesland oder eine Landeskirche zuständig sind. Die Perspektivgruppen des Gnadauer Verbandes sowie die Konferenz für Gemeindegründung (KfG) sind nachahmenswerte Vorbilder, von denen das letztgenannte bereits seit den 1980er-Jahren aktiv ist.
Keinesfalls sollten sie nur von Theologen bestückt sein, da auch Impulse aus Wirtschaft, öffentlichem Dienst, Unternehmertum – insbesondere aus der Start-up-Branche – sowie den Beratungsprofessionen für die Lösung der anstehenden Fragen äußerst willkommen sind. Ebenfalls ist darauf zu achten, diese Think Tanks mehrheitlich mit Teil-Dienstaufträgen auszustatten (besonders bei den teilnehmenden Pfarrern). Dadurch wird zweierlei erreicht:
Erstens: Der Gemeinde- und Praxisbezug der Think Tanker wird gewährleistet. Ergebnisse und Modelle aus den Fachgesprächen können sofort in den Gemeinden erprobt und diskutiert werden. Das Feedback aus den Gemeinden erfolgt ebenfalls zeitnah. Für Think Tanks ist ein derartiges Setting unbedingt erstrebenswert.
Zweitens: Für Fresh X tragen haupt- und ehrenamtliche Stellenanteile von 10%, 25% oder 50% darüber hinaus dazu bei, dass unattraktive Teilzeit-Pfarrstellen „aufgefüllt“ und damit besser besetzbar werden.
11. Von der weltweiten Mission lernen
Wir müssen „[…] uns auf die Situation einer Minderheitenkirche, d.h. einer Missionskirche, einstellen und unsere Ressourcen entsprechend auf die Bildung überlebensfähiger geistlicher Gemeinschaften ausrichten.“[22] Der Rede, dass sich Deutschland unbestritten zum Missionsland entwickelt hat, sollte nun auch der nächste konsequente Schritt folgen: dass nun auch hier Missionare tätig sind. Dem Erfahrungsaustausch zwischen einheimischen Gemeinden und Missionaren aus dem Ausland[23] messe ich darum eine hohe Bedeutung bei: Die Kombination aus Ortskenntnis der Einheimischen und dem fachlichen Blick „von außen“, des Missionars, ist ein lang erprobtes Konzept in der Auslandsmission. Bereits das Gedankenexperiment, wie z.B. Reverse Missionaries es anstellen würden, Deutschland mit dem Evangelium zu erreichen, kann innovativ wirken.
12. Vom Nordosten lernen
Vor allem in den ländlich-peripheren Regionen (Nordost-)Deutschlands manifestiert sich schon jetzt die Realität abbrechender Kirchlichkeit, die erst in der Zukunft auf die gutsituierten und einnahmestarken Kirchenkreisen zukommt. Doch statt Mitleid mit den ersten zu haben, ist Lernen von denselben die Maxime, nach der zu verfahren ist. Die Überdehnung des dortigen Parochialsystems verlangt nach neuen Lösungen; die dortigen EKD-Kirchen können sich zur Avantgarde in Strukturfragen für das übrige Deutschland entwickeln, wenn sie den dazu nötigen Freiraum und die Unterstützung bekommen. Gerade dieser Teil Deutschlands verfügt über ein halbes Jahrhundert Erfahrungen, mit der Minderheiten-Situation umzugehen.
13. Ökumene entdecken – Netzwerk statt Verband
In den letzten 60 Jahren ist es den EKD-Kirchen nicht gelungen, ein wachsendes Segment der Gesellschaft für ihre Botschaft zu begeistern. Das Gegenteil ist der Fall. Trotz einer neuen Ausdeutung, die „Volkskirche“ als „Kirche für das Volk“ versteht[24], lässt sich bisher kein geistlicher Aufbruch ausmachen. Währenddessen sind die beiden großen Kirchen nur dank ihrer komfortablen Ausgangssituation in der Lage, trotz derartig großer jährlicher Abgänge bis heute handlungsfähig zu sein.
Wie in der Wirtschaft Konsortien zur Realisierung größter Projekte Usus geworden sind, so sind auch im christlichen Bereich inzwischen viele Projekte, viele soziale Nöte und Aktionen so mächtig, dass eine einzelne Gemeinde damit überfordert wäre.
Somit gewinnt der Gedanke einer aktiven ökumenischen Zusammenarbeit neu an Dringlichkeit und Attraktivität. „Ökumenikal“, wie ich es nenne, meint „überkonfessionell“ im Vollsinn, nicht die Verengung auf den evangelisch-katholischen Diskurs. Die hier geforderte Kooperation nimmt die mühsamen Fortschritte in der evangelisch-katholischen Annäherung dankbar zur Kenntnis, konzentriert sich jedoch auf den innerevangelischen Schulterschluss. Landeskirchliche, innerkirchliche und freikirchliche Gemeinden unterscheiden sich in praxi oftmals weniger in theologischen Fragen als vielmehr in der geschichtlichen Herkunft und in Strukturen.
Wo noch nicht vorhanden, können solche ökumenikalen Konsortien im kleinen Stil begonnen werden. Ein nachahmenswertes Beispiel bildet das Publikationsorgan „Umme Ecke“, ein monatlicher Bulletin mit den Terminen und Adressen aller angeschlossenen christlichen Gemeinden, Einrichtungen und Initiativen in und um Hannover.[25] Eine solche Form von Zusammenarbeit ist universell anpassbar, schon mit minimalem Aufwand umsetzbar und hat integrierenden Charakter. Zudem gibt sie nach außen ein gutes, vielfältiges Bild ab. In der Folge kann der Grad von Zusammenarbeit beliebig intensiviert werden.
14. Form Follows Function
Das Bespiel der Freiwilligen Feuerwehr mag dafür stehen, wie auftragsbetontes Arbeiten Basisort, Ausstattung und Strukturen bestimmt. An dieser Stelle kommt die Fragestellung dieser Arbeit an ihre Grenzen. Es ist deutlich geworden, dass der demografische Wandel von den Kirchen nicht zuerst nach einer strukturellen Antwort verlangt. Im letzten Kern geht es um die Herausforderung, die Formen kirchlicher Arbeit derart zu gestalten, dass sie der Aufgabe, die Menschen in Deutschland mit dem Evangelium zu erreichen, dienen. Auf das Doppelgebot der Liebe und den Missionsbefehl muss konsequent alle kirchliche Strukturentwicklung ausgerichtet sein. Dass man so mit kirchlichen Formen umgehen darf, stellt die CA selbst klar: „[…] Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, daß überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden […]“[26]
[1] Im Gegensatz zu Mk 1,15 und 1Thess 1,9 ist in der Struktur-Frage die neue Richtung auszumachen um ein vielfaches unklarer, diffuser und schwieriger: Metanoia – ja, aber wohin?
[2] In Anlehnung an Ps 121,1.
[3] Er versöhnt, und Christen sind Botschafter der Versöhnung (2Kor. 5, 19f). Er baut, und Christen sind seine Mitarbeiter (1Kor. 3).
[4] Diesem grundsätzlichen Thema kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Sehr empfehlenswert zu diesem Thema ist: Heyl, Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung.
[5] Malm, Helden, 31.
[6] Gemeint sind Verantwortliche, Leiter, Kirchengemeinderäte, Entscheidungsträger, ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiter.
[7] Z.B. Ilse Junkermann während ihrer Württemberger Zeit sowie Prälatin Gabriela Wulz, u.a. bei einem Vortrag in Bad Urach.
[8] Jedoch sagen Instrumente wie die Neue Gemeinde-Entwicklung (NGE) von Schwarz u.U. noch weitaus mehr über den Gesundheitszustand einer Gemeinde aus und sollen daher hier zumindest kurz erwähnt werden.
[9] So geschehen bei der sogenannten alternativen Gottesdienstbesucher-Zählung von „Kirche für morgen“ vor etwa zehn Jahren. – Eine andere Möglichkeit ist die Erfassung nach Wohngebieten, SINUS®-Milieus, Gemeindegebiet und auswärts usw. Vgl. auch N.N., Erstmals ganzjährige Statistik im Kirchenbezirk Reutlingen, www.kirche-reutlingen.de
[10] Douglass, Die neue Reformation, 338.
[11] Motto von Fresh X England, wie sich Gemeinden und Einrichtungen zukunftsfähig vernetzen können.
[12] In 2016, also 20 Jahre nach Erscheinen des Buches, stellt Douglass die Diversität der Lösungen heraus: Fusion sei eine Lösung unter mehreren. Diese Meinungsänderung sei kein Eingeständnis von Fehlern sondern das Zugeständnis von Fusion als eines – nicht zu vorschnell anzuwendenden – von vielen Modellen, aber keinesfalls als einzige Lösung. Oberstes Ziel sei die Passung vor Ort. Quelle: Telefon-Interview mit Douglass.
[13] §16 KGO. In: Evangelische Landeskirche in Württemberg, Handbuch, 31.
[14] Aus der Gemeindevision „Wir haben einen Traum“ der Andreas-Gemeinde Niederhöchstadt. Quelle: www.douglass.de
[15] Was Pfarrstellenreduzierungen und Veräußerungen kirchlicher Gebäude de facto immer darstellen.
[16] Zur Paradoxie zwischen Salutogenese und mehr Anspruch vgl. Hartmann/Knieling, Gemeinde, 10f.
[17] Ein Erprobungsprojekt wird augenblicklich im Distrikt Nord des Kirchenkreises Marbach konzipiert. Ausgehend von Douglass‘ Thesen geht es um den Umbau der örtlichen Pfarrstellen zu einem Pfarrerpool, der die beteiligten Kirchengemeinden künftig betreuen und begleiten soll. Sollte es zum Abschluss kommen, wird die Selbständigkeit der Ortsgemeinden beibehalten, die Pfarrstellen jedoch, jeweils mit einem parochialen Schwerpunkt, flexibler konzipiert (gemäß dem Schema von Kooperation und Orientierung[17]). Synergien werden erwartet, Kooperationen erhofft, und es könnte tatsächlich wegweisend für ähnliche Fälle werden. Am wichtigsten jedoch scheint zu sein, dass die Gemeinden die nächsten beiden PfarrPlan-Runden selbst bei einem Verlust von 300% Pfarrstellen überstehen und ohne Fusion weiterexistieren können. Mit einer diesbezüglichen Perspektive bis 2030 wäre in diesen Zeiten schon viel erreicht.
[18] So z.B. in Württemberg.
[19] In der Württembergischen Kirche wurde im Zuge einer Projektstelle das Projekt Fit Fürs Feiern entwickelt, das die Gottesdienst-Kompetenz nichtordinierter Gemeindemitglieder zum Ziel hat: www.fitfuersfeiern.de
[20] Hier kann die EKD viel von der Expertise angloamerikanischer Organisationen lernen: Bei Rural Ministries wird die Strategie der gezielten Gemeindegründung/-pflanzung als Parachuting bezeichnet. Operation Mobilisation hat diese Idee unter Nigel Paul 2009 wiedererweckt: N.N., MoveIn, 1-4.
[21] Härle, Dogmatik, 609.
[22] Herbst, Neue Wege ins Gotteshaus, 106.
[23] Inklusive Reverse Missionaries. Unter „Reverse Missionaries“ versteht man aus ehemaligen Missionsländern in die ehemaligen Sendungsländer ausgesandte Missionare.
[24] Alex/Schlegel, Mittendrin!, 38.
[25] Wilkening/Weber, ummeecke, www.ummeecke.de
[26] CA 7, zitiert nach: Pöhlmann, Bekenntnisschriften, 64.

