Pfarrer – Katalysator oder Flaschenhals?
1 Ämterfrage
Vor dem Hintergrund fortgesetzter Pfarrstellenstreichungen muss neben der Gemeindefrage auch auf die Bedeutung des Amtes, vor allem natürlich auf das des Pfarrers, eingegangen werden, denn auch knapp 500 Jahre nach der Reformation pflegen die EKD-Mitgliedskirchen eine ausgesprochene Pfarrerzentrierung, parado-xerweise zum Ärgernis vieler Beteiligter, Pfarrer wie Ehrenamtlicher.[1] Wird dieses Thema von den Reformdiskussionen ausgespart, steht zu befürchten, dass die Aktivität einer Gemeinde parallel mit dem abnehmenden Dienstauftrag des Pfarrers absinkt. Wer Pfarramt und Gemeinde derart stark (und wenig reflektiert) in eins setzt, muss von Streichungen betroffenen Gemeinden in Stadt und Land konsequenterweise alle Wachstumsaussichten absprechen, denn „mehr Pfarrer“ ist in Zukunft nirgendwo mehr zu erwarten.
Von Perspektiven für Gemeinden in ländlichen Räumen zu reden, wie es diese Arbeit reklamiert, oder vom Wachsen gegen den Trend zu träumen wie die Verfasser von Kirche der Freiheit, erfordert, den inhärenten engen Zusammenhang von pfarramtlicher Versorgung und Gemeindewachstum zu hinterfragen. In der V.KMU hat sich die Pfarrerkirche in ihrer Existenz und in ihrer zentralen Bedeutung zum wiederholten Male selbst bestätigt. Zwar ist der Status Quo richtig analysiert: „Pfarrer sind die Vertreter ihrer Kirche. Wo sie sind, ist Kirche. Wer in unserer Gesellschaft an ‚Kirche‘ denkt, denkt erstens an Kirchengebäude und zweitens an Pfarrer.“[2] Nicht geklärt ist damit die Frage nach Ursache und Wirkung, vulgo: was Huhn und was Ei ist. Ob das genannte Zitat zudem einer (praxis-)theologischen Reflektion standhält, sei dahingestellt, zumal der Duktus solcher Dokumente auch immer die Fortschreibung der bisherigen Pfarrerrolle für die Zukunft impliziert. Eine stärker teamorientierte Wahrnehmung von Aufgaben und Verantwortung ist zumindest auf Ebene der Autoren nicht am Horizont. Kirche wird sich also strukturell weiterhin auf ihr Pfarrerpersonal fokussieren. Pfarrer sind geradezu selbst zum sine qua non geworden.
Die Ineinssetzung von pfarramtlicher Versorgung und Eigenständigkeit von Gemeinden wird in Zukunft dazu führen, dass, stärker als bisher, Gemeinden zusammengelegt werden müssen, um der neuen Gemeinde die volle Versorgung durch einen Pfarrer zusagen zu können: Früher hatte ein Pfarrer eine Gemeinde. Heute hat eine Gemeinde einen Pfarrer. Allerdings sind Kirchengemeinden, die aus drei und mehr ehemaligen Gemeinden bestehen, längst keine sinnvollen Größen mehr, da sie weder identitätsstiftende Wirkung haben noch die Möglichkeit zur Schwerpunktsetzung geben.[3] Solche Gebilde stellen letztlich den Kirchenkreis im Kirchenkreis dar.
Pfarrer sind Leiter, Manager, Seelsorger, Prediger, Fachleute, Berater, Personalchefs, Sitzungsleiter, Fundraiser, Religionslehrer, Freizeitpädagogen, Erwachsenenbildner, Zeremonienmeister, Hausmeister, Einkäufer, PR-Chefs, Showmaster, Kultur-Lobbyisten, Bauspezialisten, Visionäre, Moderatoren … Die Liste ist beliebig erweiterbar. Warum Pfarrern eine derartige Rollenvielfalt zugesprochen wird, haben andere Autoren intensiv abgehandelt.[4] „Ob sie in allem außerdem gut und dasselbe auch im Team sind, ist sicher sehr verschieden zu beantworten.“[5]
Was aber ist die genuine Aufgabe eines Pfarrers, einer Pfarrerin?[6] Welche Stellenbeschreibung geben Bibel und Bekenntnisse vor? Tatsächlich ist die biblische und urchristliche Ausgangsbasis sehr schmal. Pfarrer hat es zu Zeiten der frühen Christen und auch in der nachapostolischen Zeit nicht gegeben. Zwar war es offenbar so, dass vereinzelt Christen für die Mission freigestellt wurden (z.B. Petrus und die Apostel), möglicherweise jedoch immer in Verbindung mit einer Teilzeit-Tätigkeit in ihrem gelernten Beruf als „Zeltmacher-Missionare“. Auch Paulus – Missionar mit dualer Qualifikation (Theologe und Zeltmacher) – ließ sich einzig von der Gemeinde in Philippi unterstützen (vgl. Phil 4, 15). Eine Sustentation von Hauptamtlichen in heutigem Sinne wird in den neutestamentlichen Berichten und Briefen nicht explizit verhandelt, wird aber auch nicht per se kritisiert oder verworfen.
2 Pfarrer als Allrounder
Die Kehrseite dieses Allrounder-Denkens schlägt sich in Burnout und Überforderung nieder. Der Schweizer Management-Vordenker Fredmund Malik, St. Gallen – nicht eben ein Fachmann in Ekklesiologie – identifiziert für Management-Stellenprofile ähnlich utopische, weil weit überhöhte Erwartungen und Rollenzuschreibungen, wie sie in der Kirche bei Pfarrstellen gang und gäbe sind.
Pfarrer genießen den Nimbus, gefragt zu sein. Aber niemand, auch nicht der organisierteste Pfarrer, kann dem Erwartungsdruck längerfristig Genüge leisten. Aus dem Procedere bei Beratungsprozessen im säkularen Bereich kann Kirche lernen: Im kleinen Rahmen sind Einzelberater ein probates Gegenüber und probate Leiter. Je größer und wichtiger die Prozesse jedoch werden, desto größere Verlässlichkeit seitens der Berater und Leiter ist gefragt. Und desto gefragter ist die gesammelte Expertise von Teams. Sich selbst und die Geschicke des Unternehmens von einigen wenigen Personen (hier: Pfarrern) abhängig zu machen – „so wichtig und prägend auch immer wieder einzelne Menschen in der Geschichte wahrscheinlich jeder Organisation gewesen sein mögen und in Zukunft sein werden“[7] –, nennt Malik im Management eine der Grundgefahren. Dem stellt er den sogenannten konstitutionellen Denkansatz entgegen:
„Die wahre Prüfung für einen Top-Manager ist nicht der Erfolg während seiner Aktivphase, sondern sie liegt in der Frage, in welche Situation die Organisation nach seinem Ausscheiden kommt: Ist sie weiterhin erfolgreich, ist sie robust gegen den Wechsel an der Spitze oder bricht sie zusammen, weil eben alles auf diese eine Person zugeschnitten war?“[8]
Aus der Soziologie ist inzwischen bekannt, dass eine Person etwa 200 Beziehungen aufbauen und halten kann.[9] Das dürfte, mit Varianzen nach oben und nach unten, auch für Pfarrer gelten. Mit anderen Worten: Ein Hauptamtlicher kann etwa dieselbe Anzahl Menschen in der und an die Gemeinde binden.[10] Damit ist die Frage, ob eine derartige Fokussierung auf die Person des Pfarrers den Hauptamtlichen zum Flaschenhals von Gemeindebau und –entwicklung macht, angesichts der heute üblichen Gemeindegrößen von 1.500–3.000 Personen bereits aus soziologischen Gründen entschieden: Pfarrstellen sind gut und wichtig für Gemeindearbeit, aber bei weitem nicht so zentral und unabkömmlich, wie es in der Landeskirche den Anschein macht.[11] Dass das Job Design neu gestaltet werden muss, ist daher auch keine neue Erkenntnis, vielmehr haben sich viele altbekannte Vorstöße zur Reform noch nicht durchsetzen können.
Wie kommt man darauf, ein Pfarrer könnte 2.000 Personen und mehr „versorgen“?[12] Verantworten – möglicherweise. Gemeindebau betreiben mit einer Perspektive des Wachstums ist hingegen unmöglich. Zumal die kirchliche Politik des „Weiter so!“ während der letzten zwanzig Jahre – bei allem anzuerkennenden Engagement der Pfarrerinnen und Pfarrer – keinesfalls zu einer insgesamt größeren Verbundenheit mit Kirche und Glauben geführt hat, sondern zu einer Stärkung der „sehr Verbundenen“ und der „überhaupt nicht Verbundenen“ einerseits sowie zu einer signifikanten Ausdünnung der „Mitte“.[13]
3 Kirchliche Standes-Dichotomie
Wer die theologischen Grundlagen von Kirche und allem, was dazugehört, bearbeitet, kommt nicht umhin, sich auch mit der Verhältnisbestimmung von Klerikern und Laien zu beschäftigen. Während der Begriff „Kleriker“ vor allem in der Katholischen Kirche eine große Rolle spielt, hat sich der abwertende Begriff „Laie“ für Ehrenamtliche auch in der Evangelischen Kirche eingebürgert. Auch wenn er so nicht intendiert ist: Abwertend deshalb, weil Sprache Realitäten schafft. Mit „Laie“ sei keine Abwertung von Ehrenamtlichen verbunden, so die Linie kirchlicher Erklärungen und Verlautbarungen. Man verwende das Wort so, wie es seinen Ursprung im Griechischen habe; mit „Laie“ (griech. laíkoj) sei der Angehörige des Gottesvolkes (griech. laoj) gemeint. – Die moderne Kommunikationswissenschaft hält fest, dass die übermittelte Botschaft nicht in dem, was der Sender meint, besteht, sondern in dem, was der Hörer hört und darunter versteht, wenn ihn die Worte erreichen.[14]
Hinter die übliche Erklärung zu „Laie“ und dessen Verwendung sind somit zahlreiche Fragezeichen zu setzen:
- Wurde der Begriff laíkoj in der griechischen Kultur tatsächlich wertneutral benutzt, wie landläufig behauptet, oder war er nicht vielmehr auch tendenziell derogativ konnotiert – z.B. im Gegenüber zur Herrschaft?
- Gibt es eine derartige Unterscheidung in klh~roj und laíkoj im NT? Gäbe es also – weiter gedacht – unterschiedliche Aufgaben für unterschiedliche „christliche Stände“?
Die Begriffsgeschichte des griechischen Wortes ist nicht ganz einfach. „Der Laie im theologischen Sinn ist der Angehörige des Volkes Gottes, also derjenigen, die an Christus glauben und von ihm berufen sind. Insofern sind selbstverständlich alle Angehörigen der Kirche, auch die sogenannten Amtsträger, Laien.“[15]
Andererseits: Werden Christen im NT nicht expressis verbis wiederholt als klhrou~menoi bezeichnet? Dennoch wird diese Anrede seit alters her ausschließlich für den Klerus, der sich davon ableitet, verwendet. Eine gewisse Schieflage lässt sich nicht leugnen, und der differenzierte Sprachgebrauch lässt bereits in der Alten Kirche ein bewusst erzeugtes, religiös verbrämtes Machtgefälle entstehen.
Die ersten Unterscheidungen lassen sich bis ins 3. Jh. n. Chr. zurückverfolgen: Die bei Christen gebräuchliche Anrede „Bruder“ und „Schwester“ wurde bei Klerikern nur noch zur Anrede ihresgleichen (Mitkleriker, Bischöfe …) gebraucht,[16] nicht mehr gegenüber Nichtklerikern. Im 13. Jh. verfügte Papst Bonifatius VIII. in seinem Schreiben Clericis laicos (von 1296), „dass, wie in alten Zeiten, so auch jetzt die Laien den Klerikern bitter feind seien.“[17] Hauptunterscheidung war fortan der Zölibat.[18]
Wie jedoch in jüngster Zeit Daniele Garrone 2015 in einem bemerkenswerten Vortrag sagte, sei laíkoj oder „Laie“ gar kein originär neutestamentlicher Begriff. Die Unterscheidung von Fachleuten (Klerus) und Laien (Amateure, Nicht-Fachleute) entbehre daher jeder exegetischen Grundlage.[19]
Leider taucht der Begriff seit Ende des 20. Jh.s über die Fresh-X-Bewegung und deren Publikationen verstärkt im deutschen Kontext auf. Und trotz vieler beschwichtigender Beteuerungen seitens Kirchenvertretern ist dieser begrifflichen Immigration unbedingt zu wehren:
„Laie“ als Bezeichnung für Ehrenamtliche verfestigt eine Abwertung nicht-ordinierter Christen und deren Engagement in der Gemeinde. Wer jemanden als „Laien“ betitelt, transportiert in unserer Zeit damit unausgesprochen Attribute wie amateurhaft, unprofessionell, zweitklassig. Es gibt keine einzige positive Konnotation in der deutschen Sprache. Ist dies das Bild, das Kirche von Ehrenamtlichen transportieren will und soll? Sicher nicht. So ist es kein Wunder, dass Kirche mit der Wertschätzung der Ehrenamtlichen – gerade bei Veränderungsprozessen – nicht vorankommt, sich die „Laien“ oft als Lückenbüßer und „Ausputzer“[20] neuer Spardiktate fühlen.
Eine weitere Beobachtung, die in diesen Kontext gehört, ist eine Beobachtung ganz eigener Art: Bei der Vorstellung eines Herrn Pfr. Thomas Müller wird „Pfr.“ vorangestellt, als Teil des Namens, analog zu Professoren-, Doktoren- oder Adelstiteln.[21] Ob sich dahinter ein impliziter christlicher „Extra-Dr.-Titel“ verbirgt, sei anderen zur Deutung überlassen.[22]
[1] Auch wenn sie nach eigenem Anspruch keine Pfarrerinnen- und Pfarrer-Kirche sein will – de facto ist sie es bis heute.
[2] Kirchenamt der EKD, V.KMU, 96-105.
[3] Vgl. die eindrückliche Video-Dokumentation „Herr der 19 Türme“, auf die jetzt [August 2016] kein einziger Hinweis mehr im Internet zu finden ist, daher auch im Literaturverzeichnis fehlt.
[4] Malik, Führen, 33ff.
[5] A.a.O., 110ff.
[6] Vgl. Pachmann, Pfarrer sein, 67ff. (von 2011); Josuttis, Pfarrer (von 1991), das sich komplett mit dieser Frage befasst.
[7] Malik, Führen, 57.
[8] Ebd.
[9] Simson, Häuser, 42. – Warnecke spricht im Rückblick auf Arthur Jacobs von der Optimierung des menschlichen Gehirns auf einen sozialen Kontext von maximal 150 Leuten.
[10] Lindner, Kirche, 171 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich ein „300 bis 500 Personen umfassende[r] Primärkontaktbereich um den Pfarrer herum entwickeln [kann].“ Das ist nach meiner Erfahrung ein realistisches Bild. Alles darüber nicht mehr.
[11] Zimmermann, Aufbruch statt Depression, 5.
[12] Oder – im Extrem – die Durchschnittsgröße von über 6.000 Gläubigen als Maßstab für einen Pfarrverband, „… damit – bei dem Priestermangel – an der Spitze jedes PV ein Priester stehen kann.“ Quelle: Steichele, Anmerkungen, 4.
[13] Kirchenamt der EKD, V.KMU, 87.
[14] Friedmann Schulz von Thun, Paul Watzlawick etc.
[15] Neuner, Ekklesiologie II, 532-573.
[16] Ebd.
[17] A.a.O., 533ff.
[18] Ebd.
[19] Garrone, Laien, 1.
[20] Zitat Kirchengemeinderätin.
[21] Die früher in gebräuchliche Sitte, Titel wie „Direktor“, „Geheimrat“ etc. vor den Namen zu setzen, hat hier überdauert.
[22] Kirche für morgen, kfm-Impulspapier deutet es in diese Richtung.