Kirchliche Schrumpfungs-Spirale
Bemerkenswert ist, dass sowohl beim gesellschaftlichen Wandel als auch bei den angezeigten (landes-)kirchlichen Entwicklungen Schrumpf-Strudel verursacht werden: Wie Alex/Schlegel ausführen, verlieren „… die meisten Landeskirchen mit einem hohen Anteil peripherer ländlicher Räume bis zu drei Mal schneller Gemeindeglieder […] als der Kirchendurchschnitt insgesamt.“[1]
Ein Fallbeispiel: 2013 wurde im Rahmen von Stellenreduzierungen die Pfarrstelle eines Dorfes auf 50% gekürzt. Aufgrund eines anstehenden Pfarrerwechsels trat die Reduzierung innerhalb kürzester Zeit in Kraft. Proteste des Kirchenvorstands bei der Kirchenleitung blieben erfolglos, und so wird diese Kirchengemeinde seither vom Pfarrer der Nachbar-Gemeinde mitversorgt. Der Stellenumfang i.H.v. 50% führte ferner zum Wegfall der Residenzpflicht.
Die bis dahin recht aktive Gemeinde (ca. 50 Gottesdienstbesucher, zahlreiche Gruppen und Kreise, engagierter Kirchengemeinderat) wurde seitdem sehr gebeutelt. Verantwortliche und Gemeinde fühlten sich allein gelassen. Während der Vakanz brach der Gottesdienstbesuch ein, um sich nicht wieder zu erholen. Andere Gemeindemitglieder, die der Gemeinde interessiert bis distanziert gegenüberstanden, brachen mit der Kirche, weil sie von den Gesprächen mit der Kirchenleitung enttäuscht waren. Die Gemeinde erlebte eine noch nie dagewesene Beliebtheits-Krise im Dorf.
An diesem Prozess soll induktiv dargelegt werden, wie Rückbau-Dynamiken in der Kirche ablaufen:
Schritt 1: Die Kennzahlen einer Gemeinde (Gottesdienst-Besuch, Mitgliederzahlen) sinken unter eine kritische Marke.
Schritt 2: Die Finanzen sinken.
Schritt 3: Die Gemeinde gerät unter Druck, Pfarrstellen-Prozente abgeben zu müssen oder den Verantwortungsbereich des Pfarrers auszudehnen (wozu dieser im ersten Durchgang oft noch bereit ist).
Schritt 4: Durch Vakanz und zunehmende Vertretungsdienste durch Externe (ggf. gekoppelt mit Dienst-Anteilen des eigenen Pfarrers in anderen Orten) fühlen sich mehr und mehr Menschen nicht mehr ausreichend „versorgt“. Sie kehren der Gemeinde den Rücken: „Wenn’s der Pfarrer nicht macht, komme ich nicht/dann gilt es nichts …“ Selbst Christen aus dem Gemeindekern bleiben weg. Die Gemeinde fühlt sich im Stich gelassen.
Schritt 5: Selbst Christen aus dem inneren Kreis (inner circle) bleiben weg.
Ein regelrechter Teufelskreis hat sich etabliert. Sollte eine weitere Ausdehnung pfarramtlicher Tätigkeit nicht mehr ohne strukturelle Veränderungen möglich sein, müssen die Strukturen nachziehen: Der Veränderungsdruck steigt. Je nach Situation vor Ort beginnt Dekan, OKR oder Gemeinde den Prozess.[2]
Die Dynamik solcher Schrumpfungs-Strudel[3] muss erfasst werden, will man die Problematik ländlicher Kirchengemeinden in den Blick nehmen und Alternativen entwickeln. Die negative Sogwirkung, die entsteht, gilt für städtische und ländliche Gemeinden gleichermaßen, jedoch sind sie bei Gemeinden in urbanen Räumen aufgrund höherer Komplexität im System schwieriger zu durchschauen.
Sollte die Gemeinde also weiterhin nach dem Grundsatz verfahren: „Der Pfarrer muss (fast) alles selbst machen, sonst ist’s nichts richtig.“, dann wird diese Gemeinde eher früher als später ihre Pforten schließen. Wer die Gemeindearbeit an die örtliche Pfarrstelle und die Pfarrstellenentwicklung koppelt, hat sich damit für den schleichenden Tod entschieden. Es kann gar nicht anders kommen, denn alle Zeichen Pfarramtlicher Strukturplanung (PSP) weisen in Richtung Stellenabbau.
An dieser Stelle des Schrumpfungs-Strudels wird sich entscheiden, ob die Gemeinde vom Strudel mitgerissen wird oder – entgegen dem landläufigen Trend – reif für Gemeindeinnovation ist.
[1] Alex/Schlegel, Mittendrin!, 28.
[2] Vgl. auch Douglass, Die neue Reformation, 270f.
[3] In den Veröffentlichungen des IEEG werden sie als das Phänomen von Schrumpfung und Dehnung bezeichnet: Herbst, Gemeindeaufbau, 26.