1 Lösungsstrategien im säkularen Kontext
Zur Verfahrensweise dieser Arbeit gehört es, nicht nur im kirchlichen Bereich nach Strategien für/gegen den Rückbau zu suchen, sondern auch im säkularen: Wie lösen bundesweit organisierte öffentliche und quasi-öffentliche Dienstleister die in den ersten Kapiteln ausgeführten Probleme? (Was) Kann die Kirche davon lernen?
1.1 Öffentliche Verwaltung
1.1.1 Typologie
Staat und Kommunen verlagern mehr und mehr Vorgänge in den Online-Bereich. Damit sind große Personaleinsparungen möglich geworden. Als Beispiel sei hier das Steuerwesen angeführt, das die Lohnsteuerkarte seit 2013 elektronisch führt, und die Steuererklärung, die seit 2015 elektronisch übermittelt werden muss. Um dennoch weiterhin vor Ort präsent zu sein, werden Rathäuser in eingemeindeten Ortsteilen meist noch mit einer verwaltungstechnischen Funktion weiterbetrieben. Im Crailsheimer Teilort Westgartshausen beispielsweise gibt es regelmäßige Bürgersprechstunden. Trotz Eingemeindung ist der Ortschaftsrat um ein Maximum an kommunalpolitischer Eigenständigkeit bemüht (z.B. Bauplatzvergabe). Im Steinheimer Teilort Kleinbottwar wurde aus dem früheren Rathaus eine Rathaus-Außenstelle mit Dienststelle des Ortsvorstehers sowie dem Bauamt.
1.1.2 Bewertung
Man ist also weiterhin um Bürgernähe bemüht, die Hauptlast der Aufgaben ist jedoch per Internet und Intranet längst ortsunabhängig zu bearbeiten.
1.2 Krankenkassen
1.2.1 Typologie
Krankenkassen stehen unter permanentem Kostendruck, und die Tendenz, sich aus der Fläche herauszuziehen, ist unverkennbar. Der Einsatz von Callcentern zu verschiedenen Themen ist z.B. bei der Barmer GEK seit ca. 15 Jahren üblich. Filialen werden zugunsten zentraler Einheiten geschlossen. Einzelne Dienstleistungen verteilen sich über das gesamte Bundesgebiet. Seitdem ist die Krankenkasse für den Verfasser gefühlt nur noch telefonisch erreichbar. Die frühere Zuordnung zu einem persönlichen Ansprechpartner in einer nahegelegenen Zweigstelle ist nicht mehr gegeben.
Statt dessen wird den Kunden z.B. ein Teledoktor-Service anempfohlen; eine Leistung, die nur so gut sein kann, wie die Hotline-Mitarbeiter sind. Eine Überprüfung der fachlichen Kompetenz der Teledoktor-Mitarbeiter ist dem Kunden nicht möglich. Vertrauen müsste auf anderen Wegen erworben werden, was aber angesichts andauernder Umstrukturierungen aussichtslos ist.
1.2.2 Bewertung
Die Krankenkasse kann sich den Rückzug aus der Fläche in gewisser Weise leisten, denn sie ist nach wie vor groß genug. Ferner sind die Kunden stark von ihrem guten Willen abhängig (z.B. bei der Gewährung von Kuren). Die Gebietsaufteilung in diesem Stadium ist vermutlich nur noch der regionalen Arbeitsaufteilung geschuldet. Theoretisch könnte die fusionierte Barmer GEK alle Dienstleistungen zentral von einem Ort aus anbieten. Es steht also zu erwarten, dass die Zentralisierung weitergehen wird. Weggefallene persönliche Beratungs-Dienste werden längst von gemeinnützigen und bezahlten Dienstleistern wie Diakonie oder dem DRK angeboten.
1.3 Feuerwehr
1.3.1 Typologie
Die Feuerwehr erlebt im demografischen Wandel eine fast symptomatische Entwicklung. Denn einerseits verlieren die Freiwilligen Feuerwehren immer mehr Kräfte durch Wegzug und Ausscheiden aus dem aktiven Dienst. Andererseits können sie nicht auf das Internet und entsprechende Online-Dienstleistungen ausweichen. Sie ist auf die Präsenz vor Ort angewiesen.
Wie also begegnen die Feuerwehr-Verantwortlichen dem Wandel in Deutschland? Seit einigen Jahren ist eine verstärkte Neubautätigkeit von Wehren zu beobachten: Waren die Feuerwachen früher im Ortskern angesiedelt, so werden sie mittlerweile verstärkt in Ortsrandlage gebaut, damit sie im Zentrum der neugegliederten Feuerwehrbereitschaft liegen (die auch mehrere Dörfer oder Orte umfassen kann). Diese Umstrukturierung zu ordnen, obliegt den Ländern.
Um den steigenden Auspendlerzahlen entgegenzuwirken (und damit auch der sinkenden Tagesbereitschaft), ist in vielen Kommunen die aktive Mitgliedschaft bei der Feuerwehr ein Bewerbungsvorteil, wenn man sich auf öffentliche Stellen bewirbt.[1] Zum Teil sind öffentliche Angestellte somit in zwei Wehren bei Übungen dabei: in der Tagesbereitschaft der Dienstgeber-Kommune (als Arbeitszeit) und in der Feierabend-Bereitschaft am Wohnort.
Eine andere Strategie für kleine Wehren besteht darin, die Beauftragung für ein Dorf an die zuständige Kommune zu übergeben: Ein Löschverbund wird gegründet, bei dem das Dorf verbindlich mit einem Fahrzeug dabei ist, die ganze Last aber nicht mehr allein schultert. Die Feuerwache bleibt somit im Dorf, wird angefragt. Der – nicht ganz unerhebliche – Vereinscharakter der Feuerwehr bleibt uneingeschränkt erhalten (was bei Neubauten auf der grünen Wiese anders wäre). Jedoch wird man sich von den heute noch gültigen Einsatzgrundzeiten verabschieden müssen. Abnehmende deutsche Bevölkerung bedeutet auch weniger Personal und somit längere Wege. Bisherige Standards müssen neu geschrieben werden. Die Jugendfeuerwehr-Arbeit wird an diesen Orten meist zentralisiert.[2]
1.3.2 Bewertung
Inspirierend für kirchliche Veränderungs-Prozesse ist die ähnliche Situation: Einerseits der Anspruch, vor Ort präsent zu sein, andererseits die klare Mission der Feuerwehr stecken den Rahmen für Veränderungen ab. Wie man leicht erkennen kann, würde ein stetiger Rückzug aus der Fläche den Auftrag der Feuerwehr ad absurdum führen. Als Folge wären im positiven Fall selbstorganisierte Wehren oder das Entstehen privater Feuerwehren zu erwarten. Im negativen Fall eine Ausweitung der Eigentümerpflichten, für Feuerschutz zu sorgen.
1.4 Mobile Lösungen
1.4.1 Typologie
Darüber hinaus werden wegfallende Dienstleistungen wie Bank oder Läden, Kino oder Bücherei mit Service-Mobilen zu kompensieren versucht: Gerade in ländlich-peripheren Räumen sind Bank-Busse für die nicht mehr autofahrende Bevölkerung eminent wichtig für die Versorgung mit Bargeld. Ortsbüchereien werden entweder ehrenamtlich geführt, oder ein Büchereibus kommt regelmäßig in den Ort, um den Leihverkehr anzubieten.
Auch die abgebrochene Grundversorgung von Dörfern und Ortsteilen wird stellenweise mit Wochenmarktständen und Verkaufswagen theoretisch gut aufgefangen. Die Ware ist regional, die Händler genießen einen guten Ruf, und jede Woche ist Markttag. Von Ortschaftsräten wird damit ein sogenannter Locus[3] wiedererweckt, der nicht nur die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicherstellt, sondern auch das Bedürfnis nach Dorfgemeinschaft, Begegnung und Austausch.
1.4.2 Bewertung
Das Problem dabei sind häufig die Verkehrszeiten: Berufstätige können diese quasi wohnortnahen Dienste am Vor- oder Nachmittag nicht wahrnehmen, und abends – wenn die arbeitende Bevölkerung frei hätte – sind die Fahrer dieser Mobile ebenfalls im Feierabend. Letztlich sind das also Lösungen für die Rentner-Generation, für die jungen Familien und Berufstätigen sind diese Lösungen kein Zugewinn. Sie müssen für diese Dienstleistungen weiterhin fahren.
Ob und inwiefern diese Lösungen für jeweils andere ländliche Räume praktikabel sind, muss sich zeigen. Ausprobieren ist hier oberste Maxime. Und jeder Landstrich muss seine Lösungen selber entwickeln. Aber es ist gut, gelungene Konzepte bundesweit bekannt zu machen.
1.5 Abkopplung von Regionen
1.5.1 Typologie
Das Berlin-Institut kommuniziert offen, für bestimmte ländlich-sehr periphere Regionen keine Hoffnung mehr zu haben.[4] Zu weit fortgeschritten seien die Abwanderungsbewegungen, als dass es den Verantwortlichen noch gelingen könne, das Steuer herumzureißen. Dörfer, die sich von ihrem Kindergarten und Grundschule verabschiedet haben, haben keine Chance, noch einmal vom Zuzug von Familien zu profitieren. Der Grund: „Stirbt die Schule, dann stirbt das Dorf.“[5] Zwar gebe es immer wieder zu beobachtende Anti-Trends, aber das seien Einzelfälle und damit keine Planungsgrundlage.[6]
Es sei also nur realistisch, mittelfristig damit zu rechnen, dass künftig ganze Dörfer leerstehen werden – mit allen Problemen. Die im Grundgesetz Art. 72 (2) sowie Art. 106 (3) Satz 2 verbriefte „Gleichwertigkeit“ und „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ werde also nicht mehr für alle Zukunft und alle Räumen gegeben sein. Solche Phänomene werden Deutschland verändern.
1.5.2 Bewertung
Bemerkenswert ist indes das Vorgehen, welches das Institut fordert: Diese sterbenden Räume hätten nur dann noch eine Chance, wenn sie ihre Zukunft vor Ort mit größtmöglicher Souveränität selbst in die Hand nehmen könnten. Tatsächlich gibt es ermutigende Beispiele peripherer Klein- und Kleinst-Kommunen, denen es mit individuellen Lösungen und viel bürgerschaftlichem Engagement gelungen ist, dem drohenden Niedergang zu entkommen. Ihnen ist gemein, dass sich die Ortsbürgermeister an die Spitze der Rettungsbewegung stellen und es ihnen gelingt, ihr Anliegen zu einem Projekt des gesamten Ortes zu machen. Auf Finanzierbarkeit wird Wert gelegt, administrative und andere Verpflichtungen werden minimiert und für das Abtragen von Verbindlichkeiten und Altlasten wird oft eine Ausnahmeregelung beantragt.
Nicht ganz zufällig kommt dieser Vorschlag von einem Think Tank, also von einem unabhängigen Experten-Pool. Für Ämter im Verwaltungsapparat sind solche Lösungen bar jeder Möglichkeit.
Noch. Denn Kommunen und Einrichtungen werden Antworten auf den demografischen Wandel entwickeln müssen, wenn sie attraktives Leben bieten wollen. Problematisch ist schon die Thematik an sich. Erschwert wird sie Politikern dadurch, dass Rückbau und Schrumpfung keine werbewirksamen Themen sind. Man kann mit ihnen keine Wahlen gewinnen. Darum tun sich Politik in Bund, Ländern und Kommunen schwer, Lösungen zu entwickeln. Familienpolitik i.S.v. Ermutigung zum Kinderkriegen könnte eine Menge bewirken, ist aber „historisch kontaminiert“.[7]
[1] Backes et al., Schrumpfkur, 53. Niepagen, Sozialraumanalyse, 20.
[2] Aus dem Gespräch mit dem Ortsvorsteher von Kleinbottwar.
[3] Dieser Ausdruck aus der Sozialraumforschung meint einen für das Quartier wichtigen Treffpunkt.
[4] Kuhn/Klinsholz (Berlin-Institut), Vielfalt statt Gleichwertigkeit, 21–23.
[5] Deggerich, Herzflimmern, 60.
[6] Z.B. Die Nordstory – Lust aufs Dorf, www.youtube.de
[7] Bartsch et al., 2030, 28.