Gastbeitrag von Stefan Piechottka
Wir mochten uns sehr, aber als wir bei dieser Frage ankamen, fingen wir an, uns wie die
Kesselflicker zu streiten. Wir waren junge Theologen und es ging um die Frage, ob man mit
wissenschaftlichen Methoden eine Gemeinde entwickeln kann oder nicht. Ein paar von uns
stimmten dem ungebremst zu. Was in einem Unternehmen oder einer anderen Organisation
funktioniert, muss doch auch in der Gemeinde klappen. Darum ist es gut, ein paar
grundlegende Dinge aus der Organisationsentwicklung auch auf Gemeinden anzuwenden,
wenn sie sich weiterentwickeln soll.
Die anderen hielten klar dagegen: Gemeinde ist Gemeinde Jesu und hier gelten nun einmal
andere Gesetze als in der Wirtschaft. Hier regiert sein Geist und nur wenn er seinen Segen
schenkt, dann kann aus einer Gemeinde etwas ganz Großes entstehen. Darum muss sich
eine Gemeindeihm nur zur Verfügung stellen. Alles andere geschieht dann durch sein
Wirken.
An diesem Abend sind wir auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen und es war klug,
diese Diskussion irgendwann einfach abzubrechen und zum gemütlichen Teil überzugehen.
Trotzdem hat die Frage mich selber nicht losgelassen. Hier nun der Versuch einer Antwort.
Um zu verstehen, ob und wie Gemeinden von uns überhaupt weiterentwickelt werden
können, müssen wir zunächst verstehen, was Gemeinde oder Kirche überhaupt ist. Ihr
Wesen und ihre Identität.
Wenn wir in die Bibel schauen, dann lesen wir, dass Paulus verschiedene Bilder und Begriffe
gewählt hat, um zu erklären,was mit Kirche gemeint ist. Gemeinsam haben sie alle, dass
damit ihre Zugehörigkeitzu Jesus Christus bzw. zu Gott beschrieben wird.
Er bezeichnet sie als
•„Tempel Gottes“ (1Kor 3,16, 6,19 und 2Kor 6,16),
•„Bau Gottes“ (1Kor 3,9),
•„Gemeinde Gottes“ (1Kor 1,2, Gal 1,13) und
•„Leib Christi“ (1Kor 12,27),
wobei letzterer Begriff für ReinerPreul das „ergiebigste und folgenreichste“ ekklesiologische
Bild für Kirche im Neuen Testament ist, da es hier vor allem und ausschließlich um das
Verhältnis zwischenChristus und seiner Gemeinde geht.
Die Verbindung zu Christus verbindet die Christen untereinander. Paulus schreibt: „Ihr aber
seid der Leib Christi und jeder von euch ist ein Glied (1Kor 12,27). Begründet wird diese
Verbundenheit mit Christus und damit auch die Verbundenheit der Gläubigen untereinander
also ganz in seinem erwählenden Handeln. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe
euch erwählt“ (Joh 15,16).
Dieser Gedanke von dem „einen Leib“ macht auch deutlich, dass von Kirche nie im Plural
geredet werden kann, sondern immer nur im Singular. Es gibt nur die eine Kirche, die
sichtbar und fassbar wird in Landeskirchen, landeskirchlichen Gemeinschaften, Freikirchen
usw.
Das Verhältnis von geistlicher und sozialer Form der Kirche.
Reiner Preul weist darauf hin, dass gerade im Blick auf die Kirche menschliches und
göttliches Handeln deutlich unterschieden werden müssen. Achtung: Jetzt wird es etwas
kompliziert, aber es lohnt sich, das einmal durchzudenken, versprochen.
Menschliches Handeln ist – nach Preul – ein Handeln „unter vorgegebenen Bedingungen, die sich in den
konstitutiven Elementen menschlicher Existenz orientieren, dem „In-Der-Welt-Sein“,Sprache, Vernunft, Vorstellungskraft, Körperlichkeit, Sinneswahrnehmung, Raum und Zeit, Interaktion, Kontingenz usw. Im Gegensatz dazu steht das göttliche Handeln, das Preul als ein „Handeln unter selbstgesetzten Bedingungen“ versteht. Menschliches und göttliches Handeln korrelieren dadurch, dass „das Handeln Gottes strikt als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns verstanden wird: Gottes Handeln als Schöpfer ermöglicht menschliches Handeln-Können (…) Gottes Erlösungshandeln in Christus und dem Heiligen Geist ermöglicht das richtige, d.h. der Intention der Schöpfung entsprechende menschliche Handeln, das Tun der guten Werke“
Für ihn wird deutlich, dass eine Theorie der Kirche auf dem Begriff des Handelns gegründet
sein muss. Die Kirche verdankt ihre Existenz den beiden Handlungsweisen Gottes Schöpfung
und Erlösung und wird durch das Handeln des Menschen gestaltet. Sie lebt und definiert sich
aus ihrer Beziehung zu Christus und der Geschwister untereinander. Die Barmer Erklärung
formuliert diesen Gedanken so:
„Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament
durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt.“
Beides gehört zusammen: die Gemeinschaft der Menschen und die Beziehung zu Jesus
Christus. Beide Pole gegeneinander auszuspielen, würde das Wesen der Kirche beschneiden.
Sie ist und bleibt sichtbare und unsichtbare Gemeinde Jesu. So, wie Gott in Christus Gestalt annahm und unter menschlichen Bedingungen in einem historischen, kulturellen und sozialen Kontext gelebt hat, so nimmt Gemeinde Jesu ebenfalls eine soziale Gestalt an, die geprägt ist von ihrem historischen
und kulturellen Kontext. Christus als Mensch beschreibt nicht sein ganzes Wesen, aber es wird für uns als Menschen hier greifbar und erfahrbar. Genauso können wir mit Kirche als soziales System nicht die
Identität der Kirche umfassend beschreiben, aber hier wird sie doch für uns sichtbar. Was als
verborgene Realität geglaubt wird, wird im System Kirche zumindest ansatzweise erfahrbar.
Gemeinde Jesu ist eine spirituelle Größe und nimmt gleichzeitig unter allen menschlichen
Bedingungen und sozialen Besonderheiten Gestalt an.
Geglaubte und erfahrene Kirche greifen ineinander und können nicht voneinander getrennt
und etwa in pneumatisch und organisatorisch unterteilt werden.
Gemeinde als soziales System
Gerade weil eine Gemeinde auch eine soziale Größe ist, können wir sie auch nach den
Gesichtspunkten sozialer Gesetzmäßigkeiten als soziales System beschreiben, untersuchen
und schließlich weiterentwickeln. Jesus als Erlöser, Gründer, Herr und Bewahrer der Kirche
bleibt dabei der Handelnde. Es geht also nicht um ein „Entweder – oder“, sondern um ein
Ineinandergreifen und Miteinander von geistlichen Kräften und sozialen Wirklichkeiten.
1Preul: Kirchentheorie, 64
2 A.a.O., 130
3Ebd.
Stefan Piechottka | www.leichtegemeinde.de