Theologische Grundlagen
„Was ist Kirche? Diese Frage ist das ungelöste Problem des Protestantismus. Von den Tagen der Reformation bis in unsere Zeit hat nie Klarheit darüber bestanden, wie sich die Kirche im Glauben sind, die Gemeinde Jesu Christi, zu der oder den Institutionen verhalte, die Kirchen heissen.“[1]
Nach Darstellung der Problemlage ist nun die ekklesiologische Basis für eine mögliche Neubewertung kirchengemeindlicher Arbeit nachzureichen. Denn wer über Strukturen von Kirche redet, muss zunächst Sinn und Zweck von Kirche formulieren. Das kann nur im Rückgriff auf die Bibel geschehen.
1 Lexikalischer Befund: Ekklesia
1.1 Profangriechisch
ἐκκλησία[2] („Aufgebot“, „Versammlung“, „Gemeinde“, „Kirche“) wurde seit dem 5. Jh. v.Chr. für den Aufruf der Heeresversammlung gebraucht. Im Zivilleben beschreibt es ab derselben Zeit die Vollversammlung der Bürger einer pólij (Stadt), welche z.B. in Athen 30-40mal im Jahr tagte. Ein verwandter Begriff ist συνáγω (versammeln) bzw. συναγωγή (Versammlung), Synagoge.
1.2 LXX
In der LXX wird mit ἐκκλησία ausschließlich lhq (sich versammeln) übersetzt. Nirgendwo bezeichnet lhq jedoch die eschatologische Heilsgemeinde.[3] lhq findet sich im AT ca. 80mal.
1.1.3 NT
114 Vorkommen. ἐκκλησία fehlt in den Evangelien – mit Ausnahme von Mt 16,18 und 18,17 – völlig. Es taucht erst ab Apg (23 Verweise) auf. Seinen Schwerpunkt hat der Begriff im Corpus Paulinum (46) und darin wiederum in 1Kor, Kol und Eph. Paulus‘ häufigstes Bild für die Gemeinde ist das vom Körper und seinen Teilen (z.B. in Eph und Kol, wo dieses Bild zudem um Christus als Kopf erweitert wird).
2 Bedeutungsspektrum von ekklesia
Welche Form, welche kirchliche Ebene beschreibt ἐκκλησία im NT? Wo ist Gemeinde demnach räumlich anzusiedeln? Dazu soll im folgenden eine kleine Übersicht dienen:
2.1 Die Gesamtheit aller Christen aller Zeiten[4] (universal)
Beleg: Kol 1,18. In diesem Sinne ist ἐκκλησία gleichbedeutend mit dem unsichtbaren und nicht abbildbaren Reich Gottes. ἐκκλησία wird in keiner irdischen sichtbaren kirchlichen Struktur abgebildet. Um das theologisch zu explizieren, führte Calvin den Begriff der „ecclesia invisibilis“[5] ein.
2.2 Die Gesamtheit aller Gemeinden einer Region/Provinz (regional)
Beleg: Apg 9,31. In diesem Sinne ist ἐκκλησία die Zusammenfassung von Gemeinden in mehreren (hier: drei) Regionen. „Gemeinde in …“ meint hier: „Gemeinschaft der Christen in …“ Diese Bedeutung entspricht am ehesten einer regionalen Struktur. Paulus orientierte sich bei der Benennung an den gängigen geografischen Bezeichnungen der römischen Provinzen.
2.3 Die Gesamtheit aller Christen eines Ortes (ökumenikal)
Beleg: 1Kor 1,1+2: In diesem Sinne ist bei ἐκκλησία entweder an alle Christen an einem Ort gedacht – in Entsprechung zur vorigen Bedeutung. Oder es ist an eine einzige, bestimmte Gemeinde an einem Ort (hier: Korinth) gedacht. Beides ist möglich.
2.4 Die sich vor Ort versammelnden Christen (lokal-partial)[6]
Beleg: Kol 4,15: In diesem Sinne ist ἐκκλησία die Haus-Gemeinde, die Normalform frühchristlicher Gemeinden bis ins 3.Jh., die noch ohne eigene Gebäude, Strukturen und angestelltes Personal auskommt. Ihr Treffpunkt ist anfangs der Tempel[7], die örtliche Synagoge (bis zur Exkommunikation), oder es waren Privathäuser, die den überschaubaren Hausgemeinden einen Versammlungsort boten.[8] Diese alltäglichen Räume entsprachen ihrem Bild von Gemeinden als Familia Dei. Vor allem in Verfolgungen boten die Hausgemeinden ein Maximum an Unauffälligkeit, Flexibilität und Dezentralität. Wurde eine Hausgemeinde enttarnt, blieb es für die Verfolger nur ein Teilerfolg. Andere Gemeinden existierten weiter. Schon Paulus verstand unter ἐκκλησία also Gemeinde in vielfältiger Gestalt.[9]
3 Ziel und Zweck von Gemeinde im NT
Vorab: Die Beschränkung auf das bloße Wort ἐκκλησία ist längst nicht ausreichend für eine erschöpfende Exegese des Wesens von Gemeinde,[10] genügt aber für die nötige Orientierung im Thema. Die Frage nach den Perspektiven von Kirche in der Zukunft – ob in städtischen oder ländlichen Räumen – wird verstärkt dazu führen, dass Leitungsgremien in der Kirche auf ihre zugrundeliegenden Bilder von ἐκκλησία zu sprechen kommen. Hieran wird sich viel entscheiden, und auch manche Trugbilder, die sich in der abendländischen Kirchenkultur verselbständigt haben und wie ein Schleier über die biblische Ekklesiologie gelegt haben, werden hoffentlich als solche erkannt und benannt. Kirche ist zugleich größer und kleiner als diese Trugbilder.
Neu aufgekommen ist im Zusammenhang mit der missionalen Bewegung die Frage nach Komm- und Geh-Struktur von Gemeinde. Die Ekklesiologien vor allem der letzten 15 Jahre haben im Zuge der Missio Dei (Vicedom) die Inkarnation Gottes (1Petr 2,5-11) in Jesus Christus zum Ausgangspunkt von Gemeinde, Mission und Diakonie gemacht. Es ist ein Rückgriff auf das NT: Damals hat die Mission in die Gründung von Gemeinden gemündet, und die natürliche Lebensäußerung gesunder Gemeinden ist wiederum Mission gewesen.
3.1 Evangelien
Jesus Christus definierte Gemeinde als die Versammlung von Menschen in seinem Namen und versprach schon den kleinsten dieser Gruppen seine Gegenwart (Mt 18,20). Gemeinde besteht durch die sich ereignende Beziehung von Menschen mit Jesus Christus und untereinander. Damit ist die Essenz von Gemeinde umrissen. Dieser Gemeinde als Ganzes ist Unbesiegbarkeit versprochen (Mt 16, 18). In seinen Abschiedsreden sagte Jesus die Ausgießung des Heiligen Geistes voraus, und bei der Entstehung der Gemeinde in Jerusalem in Apg 2 werden die Empfänger des Heiligen Geist und die ἐκκλησία in eins gesetzt: „Indem der Heilige Geist da ist, ist Gemeinde da.“[11]
Verbundenheit mit Gott (d.h. Glaube) führt also in die weltweite unsichtbare Gemeinde und im Idealfall in die sichtbare Gemeinschaft mit anderen Christen. Aus dem biblischen Befund leitet Brunner ab: „Falsch ist ein mit-Gott-Sein, das nicht zugleich ein mit den anderen Sein ist – das heißt falsch ist jede asoziale Mystik.“[12] Gemeinde braucht die Gemeinschaft von zwei und mehr Menschen in Jesus‘ Namen. Sie wird durch den Heiligen Geist gestiftet, und das ist gemäß NT notwendig und hinreichend zugleich.
3.2 Paulus
Somit ergibt sich ein recht klares Bild von der Gestalt der noch jungen Urgemeinde, die sich noch wenig Gedanken über äußere Formen machen musste.[13] Nötige Anpassungen folgen aber bald, die ersten Anzeichen dafür sind in den späteren Kapiteln von Apg sowie in den Paulusbriefen – und dort vor allem in den Pastoralbriefen – zu finden. Geht es anfangs um die Ausgliederung dringender Aufgaben aus dem Dienstbereich der Apostel, um sich wieder ihren Kernkompetenzen zu widmen (Apg 6), nutzt Paulus seine zweite und dritte Missionsreise, um in etlichen Gemeinden Älteste einzusetzen. Die junge Bewegung soll durch äußere Formen stabilisiert werden. Strukturen und Gemeindeämter sind für Paulus kein Verrat an der Sache, sondern zielführendes Mittel zur Erfüllung des Auftrags. Sie sollen der Ausbreitung des Evangeliums dienen und die Gläubigen beieinander halten. Möglicherweise war ihm sogar bewusst, dass fehlende Leitungsstrukturen die Gemeinden in unüberschaubare Machtkämpfe stürzen würden.
In Apg und dem Corpus Paulinum kann man immerhin aus einigen Stellen Informationen über Treffpunkte, Gottesdienst-Elemente, und zumindest (ehrenamtliche) Strukturen herauslesen. Für Paulus sind diese Themen bestenfalls von untergeordneter Bedeutung. Dabei erkennen die Ausleger eine innerpaulinische Entwicklung des ἐκκλησία-Begriffs: Während Paulus in seinen Hauptbriefen so gut wie nicht auf Gemeindestrukturen eingehe, spielten sie in den Pastoralbriefen eine gewichtige Rolle, zum Beispiel bei den Kriterien für die Auswahl von Ältesten und Bischöfen.
Sicher war die beinahe Bedeutungslosigkeit struktureller und organisatorischer Fragen zur Zeit des NT auch dem kurzen Lebensalter der Kirche geschuldet. Sie brauchte ob ihrer Größe wenig grundsätzliche Regelungen und konnte sich den Freiraum genehmigen, unprätentiös zu sein.
4 Ziel und Zweck von Gemeinde an Wegmarken der Kirchengeschichte
4.1 Reformation
Vielleicht war es eben dieser Beobachtung geschuldet, dass Luther und die anderen Reformatoren, aber vor allem Luther, die Gemeindefrage unter die Adiaphora zählten und erst nachrangig bearbeiteten. Zwar entwickelte Luther ein Gottesdienst-Konzept, bestehend aus drei unterschiedlichen „Formaten“, schob jedoch die Einführung der dritten, sehr verbindlichen Form mit der Begründung auf, „er habe die Leute nicht“.[14]
Geht man mit dieser Frage an die Bibel heran, muss man also zugeben, dass die Frage nach Gemeinde und Gemeindeformen, Strukturen und –Organisation auch im gesamtbiblischen Kontext gerade nicht im Zentrum steht. Emil Brunner und moderne Kirchen-System-Kritiker machen später – sicher nicht zu Unrecht – die Gegenüberstellung auf: Im NT ging es um Persongemeinschaft, heute um Strukturfragen.[15] Davon wird noch weiter zu reden sein.
4.2 Bekenntnisschriften
In den maßgeblichen Bekenntnisschriften (allen voran in CA 5, CA 7 und CA 9/14), wird auf der Suche nach sichtbaren Kriterien für Gemeinde die bekannte Formel „wo das Wort Gottes gepredigt und die Sakramente ordentlich verwaltet werden“ (CA 7) geprägt. Das ist strenggenommen schon eine abgeleitete, im NT so nicht belegbare Ausdeutung, die in ihrer Hochschätzung von Abendmahl und Taufe vor allem die katholische Prägung Luthers widerspiegelt. Sie geschah zu Recht, dennoch ist es erkenntnisreich, sich die Unterscheidung von biblischen Aussagen und deren Ableitung, die immer auch eine Interpretation darstellt, zu vergegenwärtigen und die Wirkungsgeschichte von ἐκκλησία Schritt für Schritt nachzuzeichnen.[16]
Die Barmer Erklärung 1933 legte den Akzent auf die Ortsgemeinde und maß ihr – dem Kirchenkampf geschuldet – eine hohe Eigenständigkeit gegenüber der Kirchenleitung bei.[17] Gegen den Trend zur Zentralisierung setzte sie auf Dezentralität.
5 Göttliche Gnade und menschliche Aktion in der Gemeindearbeit
Das Verhältnis von göttlichem Wirken und menschlicher Mitwirkung an Gemeindeaufbau blieb über die Jahrhunderte stets eine Frage. Vor allem während der Reformationszeit wurde angesichts der fröhlichen Urstände, die Sünde und Irrlehre in der Kirche feierten, die Frage neu gestellt, inwieweit die Christen sich stärker als in der Vergangenheit für Gottes Kirche einsetzen müssten. Luther und Calvin – um nur zwei Antipoden zu nennen – beantworteten diese Frage völlig gegensätzlich: Während Calvin irdischen Erfolg (auch im Gemeindewachstum) als Segen Gottes wertete und damit auch den Aktivismus mit der Theologie verband, wirkt Luther in seinen Schriften (nicht in seinem Schaffen) „passiver“, überließ sich und den Ausgang seines Wirkens scheinbar mehr der Kraft Gottes. Für Luther war Gott derjenige, der in der Kirche wirkte. Schließlich sei es doch seine Kirche.[18]
6 Impulse aus der Reverse Mission
Etwa seit der Jahrtausendwende ist unter Fachleuten der Begriff der Reverse Mission populär. „Reverse Mission“ bedeutet „Umgekehrte Mission“: Missionare aus den traditionell als Zweidrittel-Welt bezeichneten Teilen der Erde kommen vermehrt zur Unterstützung von Gemeinden nach Deutschland.[19]
In der Konsequenz eröffnet diese Praxis auch neue missiologische Sichtweisen für die (Re-)Evangelisation und effektive Gemeindearbeit in Europa:
- Wie würden ausländische Missionare es anstellen, Deutschland für das Evangelium zu gewinnen, wenn sie auf die hierorts ansässigen „Germanenstämme“ antreffen würden, ohne auf kirchlich-christliche Vorarbeit zurückgreifen zu können? Welche Methoden, welche Strategien würden sie anwenden? Auf welche Ressourcen würden sie zurückgreifen? Welche Anknüpfungspunkte würden sie suchen und nutzen?
- Wie sähe – menschlich gesprochen – ein Masterplan für die Gewinnung der Einwohner Deutschlands für den Glauben aus? Was von unseren aktuellen Maßnahmen und Konzepten würde als geeignet übernommen werden, was nicht?
- Würden die Missionare auf die indifferenten und die interessierten Zeitgenossen in Kirchengebäuden warten oder ihnen außerhalb entgegenkommen? Welche Medien würden sie nutzen?
- Wie relevant sind aus diesem Blickwinkel die verschiedenen Konfessionen? Im Einsatzland sind Missionare mehr als hierzulande bereit für eine Ökumene der missionarischen Zusammenarbeit, trotz unterschiedlicher Frömmigkeits-Prägungen und Konfessionen.
Solche Gedankenspiele helfen, Form und Funktion, Weg und Ziel voneinander zu unterscheiden. Das wiederum dient uns Heutigen dazu, in der Diskussion um Formen und Inhalte den Überblick zu behalten, worum es bei allen Strukturen im Kern geht. Gemeinde und Kirche sind Ausgangspunkt und Zielpunkt von Mission zugleich, kein Selbstzweck. Das macht auch den Blick über den konfessionellen Horizont möglich:
Die eine Kirche Jesu Christi besteht also grundsätzlich in der Vielfalt der sich in seinem Namen zum Gottesdienst versammelten Kirchen und Gemeinden. Schon die kleinste Hausgemeinde ist Kirche Jesu Christi – und die Kirche Jesu Christi im umfassenden Sinne ist nicht weniger als die weltweite Einheit aller Berufenen und Heiligen, die den Namen des Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort. Weder wird die eine Kirche Jesu Christi erst und ausschließlich durch die Vielzahl der Einzelgemeinden konstituiert, noch ist die kleinste Zelle einer Hausgemeinde unter anderen im Verbund der Ortsgemeinde eine mindere oder untergeordnete Gestalt von Kirche, sondern Ekklesia Christi im Vollsinn des Wortes.[20]
Eine derartige interdenominationelle Kooperationsbereitschaft wie oben beschrieben ist im deutschen Kontext bisher noch wenig auszumachen. Das Schlagwort „Ökumene“ wird bis heute einseitig für den evangelisch-katholischen Dialog vereinnahmt. Dabei ist auch ein innerevangelischer Schulterschluss der Landeskirchen mit freikirchlichen Gemeinden und völlig unabhängigen Gemeindegründungsinitiativen längst überfällig. Annäherungsgespräche im evangelischen Bereich beschränken sich viel zu oft auf Bekenntnisebene. Doch die vertrauensbildende Arbeit auf allen Ebenen hat damit erst ihren Anfang genommen. Die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) im Jahr 1948, die Gründung der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) im Jahr 1973 sind lobenswerte Schritte in die richtige Richtung. Allerdings erweist sich erst vor Ort, ob eine Kooperation trotz unterschiedlicher Amts-, Tauf- und Charismenverständnisse (um nur drei Streitpunkte zu nennen) gelingen kann.
Einen anderen interdenominationellen Weg geht die Evangelische Allianz (1846 gegründet), die weniger auf die strukturelle Kirchengemeinschaft abhebt, sondern Christen aus verschiedenen Kirchen und Gemeinden, Landes- und Freikirchen, christlichen Gruppen und Initiativen verbindet, schwerpunktmäßig vor Ort.
7 Zwischenfazit
7.1 Christus als Subjekt
ἐκκλησία wird gemäß Mt 16 von Christus selbst gebaut. Er ist das Subjekt ihres Wachstums.
7.2 Gemeinde ist unabhängig von Ressourcen
ἐκκλησία ist an keiner Stelle an das Vorhandensein personeller, finanzieller oder gebäudlicher Ressourcen gebunden. Die Jerusalemer Gemeinde, für die später im NT um Spenden gebeten wurde, war eine geistlich prosperierende Gemeinde.
7.3 Gemeinde besteht in Vielfalt
Einige der im NT genannten Gemeinden hat Paulus selbst gegründet (Vgl. Perge, Lystra, Ikonion u.a. auf der ersten Missionsreise). Mit weiteren, bereits bestehenden Gemeinden hat Paulus durch Besuche und über Briefe Kontakt aufgenommen (z.B. Röm). Höchstwahrscheinlich sind einige dieser Gemeinden schon direkt nach Jesus‘ Tod gegründet worden, z.B. als Ergebnis der Christenverfolgung in Apg 1. Paulus anerkennt diese bestehenden Gemeinden und sucht den Kontakt zu ihnen, um sie – wie im Beispiel der Christen in Rom – als Unterstützer für seine Missionspläne in Spanien zu gewinnen (vgl. Röm 15,24–28). Mission als Ausdrucksform des Glaubens war also schon damals Teil von Paulus‘ Ekklesiologie.
Mit Blick auf 1Kor 3 scheint es sogar unterschiedliche Gemeindegründungs-Teams gegeben zu haben. Während man bei der Spaltung des Missionsteams Paulus/Johannes Markus noch von einem gewissen gemeinsamen „Stallgeruch“ ausgehen kann, besitzt Paulus darüber hinaus auch die Größe, Gottes Wirken in anders geprägten Christen und Missionspionieren zu erkennen (vgl. Phil 1,15ff.). In seinen Augen ist Gott, ist Glaube größer als er und sein, wenn auch erkenntnisreiches, Bild von Mission und Gemeinde.
7.4 Gemeinde als corpus permixtum
Christen wurden vor allem in der Anfangszeit gerne als τῆς ὁδοῦ ὄντ[oi] (Apg 9,2) und der Glaube als ὁδος (Apg 24,14 u.a.) beschrieben. Wie auch in anderen neutestamentlichen Briefen zu erkennen ist, haftet der ἐκκλησία immer auch etwas Vorläufiges und Prozessuales an:
Versteht man die ‚Gemeinde Gottes‘ mit den ersten Christen als das eschatologische Gottesvolk das dem Kommen seines Herrn und seiner endgültigen Erlösung entgegengeht, dann erkennt man den im doppelten Sinne ‚vorläufigen‘ Charakter der Kirche: Sie bezieht ihre Identität in Vorfreude und Zuversicht von der kommenden Realität der eschatologischen Vollendung her (‚schon jetzt‘), und sie versteht sich hinsichtlich ihrer Strukturen, Institutionen und Gemeindeformen als provisorisch (‚noch nicht‘). Ihre beste Zeit und ihre vollkommene Gestalt hat die Kirche noch vor sich! Ihre Zeit läuft nicht ab, sondern an![21]
7.5 Gemeinde vor Ort
Die Gemeinde vor Ort ist erste und wichtigste Verkörperung des Körpers von Jesus: Ὑμεῖς δέ ἐστε σῶμα Χριστοῦ (1.Kor 12,27). In ihr treffen sich Menschen, die zur unsichtbaren Gemeinde Gottes gehören. In der Gemeinde vor Ort feiern aber auch verschiedene Grade von Frömmigkeit miteinander Gottesdienst, und sie gehören alle miteinander zur Gemeinde: getaufte Menschen, die es mit dem Glauben ernst nehmen, interessierte Konfessionslose, distanzierte Kirchenmitglieder, ausgetretene Getaufte verbinden sich durch Interesse am Glauben in der Gemeinde miteinander. Ist das dann alles Gemeinde – oder muss man gedanklich Gemeinde in mehreren Abstufungen denken?[22]
In der Theologie ist dafür der Terminus corpus permixtum eingeführt worden, das hier noch in aller Durchmischung auf den Tag von Gottes Vollendung wartet.[23]
7.6 Gemeinde ist eingebunden in einen größeren Verband
Zur Gemeindemitgliedschaft gehört nicht bloß die Gemeinde vor Ort, sondern auch die Zugehörigkeit zu einem übergemeindlichen Verband.[24] Christen muss deutlich sein, dass Gemeindeverbände und –zusammenschlüsse eine gute Sache sind – geistlich wie organisatorisch.[25] Es ist meine Beobachtung, dass freie, unabhängige, überkonfessionelle Gemeindegründungen entweder selbst den Hang zur Kirchenbildung haben – also ein Filialnetz bilden[26] –, oder diese Gemeinden dümpeln in ihrer Unabhängigkeit ohne Einbindung in einen großen Rahmen visionslos vor sich hin.
7.7 Gemeinde ist nicht in einer Organisation abbildbar
Die überwiegende Mehrzahl der Dogmatiken lehrt, dass aufgrund des Gesagten in der sichtbaren Welt keine Deckungsgleichheit von universaler Gemeinde und sichtbarer Gemeinde/Kirche bestehe noch bestehen könne.[27] Somit sollte jede Gemeinde in Demut die Existenz anderer Denominationen, Gemeinden und Initiativen anerkennen und die Zusammenarbeit suchen. Den Himmel auf Erden können Menschen nicht erwirken, und Gemeinden sind Herbergen auf dem Weg zur Ewigkeit ähnlicher als einer Gemeinschaft von Heiligen, die sich als Christen von der Welt zurückgezogen haben und seitdem ohne missionarische Relevanz für ihre Umwelt auf das Weltende zuleben.
Bis dahin müssen Gemeinden und Kirchen somit die Frage der Zuordnung von sichtbarer und unsichtbarer Gemeinde für sich beantworten, und das in zweierlei Weise: Erstens müssen sie biblisch begründen, wofür Gemeinde im Sinne einer lokalen Gruppe da ist. Ist ihr Zweck vorrangig bzw. ausschließlich die Sammlung von Christen (wie es Mt 18 vermuten lässt)? Oder geht es darum, Menschen im Sinne von „Belonging Before Believing“ durch Engagement und persönliche Beziehungen zu Christen in ein Kraftfeld der Liebe Gottes zu ziehen? Gemäß dieser letzten Deutung, welche die theologische Grundlage des missionalen Ansatzes und der Gemeinwesendiakonie bildet, wäre ἐκκλησία als corpus permixtum eine regelrechte Gemeindewachstumsstrategie, in der eben dieselbe Durchmischung nicht nur akzeptiert wird, sondern für Gemeindebau nutzbar gemacht wird.[28]
Zweitens: Natürlich ist eine sich versammelnde kirchliche Gruppe oder Gemeinschaft am Ort auch noch in Mitglieder und Nichtmitglieder, Förderer und Freunde zu unterteilen. Aber auch diese Aufgliederung erzeugt keine reine Gemeinde. Denn abgesehen von den biblisch nicht belegten Kriterien für die Aufnahme von Menschen in den innersten Gemeindekern ist auch das Leben eines Christen viel zu unbeständig. Darüber hinaus hat die Lehre von der reinen Gemeinde – von den wahren, echten, geheiligten Christen – in der Kirchengeschichte für viel Unglück, Überheblichkeit und Spaltungen gesorgt.[29]
7.8 Räumliche Verortung von Gemeinde
Gemeinde besteht dort, wo sich Christen im Namen ihres Herrn treffen. Gottesdienste, Bibelstunden und Gemeindefeste sind Sichtbarmachungen von Gemeinde. Solche Treffen ereignen sich im Idealfall in Wohnortnähe. Den Urchristen war das Erbauen und Aufsuchen heiliger Orte zur Verehrung ihres Gottes unbekannt. Der jüdische Tempel oder der Priesterkult spielten in ihrer Theologie fast nur noch eine figurative Rolle, wenn sie sich auch im judenchristlichen Zweig der Mission zunächst an Tempel und Synagoge hielten.
[1] Brunner, Das Missverständnis der Kirche, 7.
[2] Sämtliche Wortstudien: Vgl. Coenen et al., Begriffslexikon, 784-799.
[3] Müller, lhq, Sp. 618.
[4] Vgl. Fresh Expressions Deutschland, Fresh X – Der Kurs. A08 Was ist Kirche, 5.
[5] Härle, Dogmatik, 590.
[6] Hierzu auch Stuhlmacher, Gemeinde, 3.
[7] Jedoch weniger zu Gottesdiensten, als vielmehr zu Glaubensgesprächen und Predigten.
[8] Ab dem 3. Jh. trafen sich die Christen meist in einem Extra-Raum einer Villa. Erst mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion traten die Gottesdienste aus dem Hauskirchendasein heraus. Den neuen baulichen Rahmen bildeten fortan immer häufiger die eigens dafür erbauten Basiliken als Grundform von Kirchengebäuden.
[9] Vgl. Eckstein/Weyel, Kompendium Gottesdienst, 40.
[10] Vgl. Schlink, Dogmatik, 554.
[11] Brunner, Das Missverständnis der Kirche, 13.
[12] Ebd.
[13] Zum Innovationszyklus im Kontext von Gemeinde(entwicklung) vgl. Brunner, jesusfriends, entdecken, 207ff.,
[14] Eine Idee, deren sich Spener 1785 annahm und die zur Gründung pietistischer Konventikel führte.
[15] Brunner, Das Missverständnis der Kirche, 19.
[16] Zur Entwicklung vom Jüngerkreis bis zur Gemeinde in Jerusalem vgl. Pohl-Patalong, Ortskirche, 36f.
[17] Vgl. Barmen 3.
[18] An dieser Stelle sei die folgende Anekdote erwähnt: Von Martin Luther wird erzählt, dass er sich um seine Kirche oft ernste Gedanken machte. Mitunter soll er gebetet haben: „Herr, ist das nun meine Kirche oder ist es deine Kirche? Es ist deine Kirche! Dann schlaf gut!“ gefunden in: Scherzer/Scherzer, Editorial, 2.
[19] N.N., Reverse Mission – was ist das? www.marburger-mission.org
[20] Eckstein, Konsequenzen. Hervorhebungen durch H.-J. Eckstein.
[21] Eckstein, Vortrag beim Konvent der Jugendreferenten, 1.
[22] Vgl. das Modell der „Kerngemeinde“, das vor allem in den 1980ern ein Denkkonstrukt für missionarische Gemeindearbeit in der Landeskirche bildete, auch „Überschaubare Gemeinde“ genannt: Schwarz, Überschaubare Gemeinde. 3 Bde.
[23] Vgl. 1Joh. 3,1; Mt 13, 36-43.
[24] Für eine gute Übersicht über die verschiedenen Formen, wie sich Gemeinde durch die Jhh. konstituiert hat vgl. Ebert/Pompe, Handbuch Kirche und Regionalentwicklung, 26ff sowie Pohl-Patalong, Ortskirche, 36ff. Zum Gegenüber von zentraler und dezentraler Gemeinde-Struktur vgl. Cole, Church 3.0, 116ff.
[25] Härle, Dogmatik, 609.
[26] So z.B: Hillsong, ICF, die Christlichen Zentren, Saddleback. Gerade letztere Gemeinde arbeitet mit einer Art Gemeinde-Franchising: Gottesdienst-Stil, Arbeitsweise, Strukturen werden exportiert. Sogar die Predigt kommt über Satellit aus Amerika.
[27] Vgl. Härle, Dogmatik, 590.
[28] Im NT findet sich für diesen Aspekt keine Entsprechung expressis verbis. Er entspringt vielmehr der Beobachtung, dass sich in der Gemeinde und ihren Gottesdiensten vieles gleichermaßen vollzieht: Ruf zur Umkehr, Erneuerung des Glaubens, Anregung zum Glaubenswachstum. Saubere Unterteilungen in Wachstumsklassen sind daher im Prinzip nicht möglich.
[29] Vgl. Härle, Dogmatik, 591.