Demografischer Wandel in ländlichen Räumen
1 Definition und Abgrenzung[1]
Der Begriff bezeichnet die Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerungsstruktur. Er hat zunächst keine wertende Funktion, sondern dient ausschließlich der Beschreibung der Zusammensetzung der Altersstruktur einer Gesellschaft. Demografischer Wandel wird von den Faktoren Geburtenrate, Lebenserwartung und Wanderungssaldo beeinflusst. Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur ergibt sich aus der Summe der drei Faktoren. Aktuell verändern eine zunehmend älter werdende Bevölkerung, sinkende Fertilitätsraten und Wanderungsbewegungen (häufig von Nord nach Süd, von Ost nach West) Städte und Gemeinden.[2]
2 Raumtypen
Die erste für diese Arbeit wichtige Größe ist die Besiedelungsstruktur: Für die Kategorisierung von Siedlungsräumen haben sich die Raumtypen des Bundesamtes für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in der Version von 2010 durchgesetzt.[3] Die Einteilung wird bestimmt durch zwei Parameter:
2.1 Besiedelung
Diese beschreibt die Einteilung nach Bevölkerungsdichte und Siedlungsflächenanteil. Unterschieden wird in „ländlich“, „überwiegend ländlich“, „überwiegend städtisch“ und „städtisch“.[4] Im allgemeinen wird für ländliche Räume eine Bevölkerungsdichte von maximal 150 Einwohnern/km2 zugrunde gelegt.[5]
2.2 Lage
Diese ist bestimmt durch die Unterscheidung zwischen „sehr zentralen“, „zentralen“, „peripheren“ und „sehr peripheren“ Räumen, klassifiziert nach potentiell erreichbarer Tagesbevölkerung.[6]
Die beiden Orientierungen Besiedelung und Lage spannen ein Achsenkreuz auf, in das sämtliche 400 Landkreise sowie die 11.084 Städte und Kommunen
Abbildung 1: Raumtypisierung des BBSR (2010) (folgt)
Deutschlands (Stand: 1.1.2016) eingeordnet werden.[7] Wichtig für die Validität der Daten ist, dass die Raumtypisierung des BBSR für das gesamte Bundesgebiet nach einheitlichen Kriterien vorgenommen worden ist und weitgehend unabhängig von veränderlichen administrativen Grenzen bleibt.[8] Da bei dieser Einteilung keine wirtschaftlichen Daten herangezogen wurden, ist eine gute Vergleichbarkeit der gewonnenen Werte gegeben.
Bei der Neufassung der BBSR-Raumtypisierung im Jahr 2010 wurde bewusst nicht mehr auf „das Land“ rekurriert. Denn „das Land“ ist keine monolithische Größe. Zu stark unterscheidet sich der ländlich-zentrale Teilort Kleinbottwar am nördlichen Rand des Stuttgarter Speckgürtels vom ländlich-sehr peripheren Tangermünde nahe Osterburg in Sachsen-Anhalt. Um diesem Befund gerecht zu werden, ist seither in der Fachliteratur – und damit auch hier – nicht „vom Land“, sondern von „ländlichen Räumen“ mit ihren je eigenen Herausforderungen die Rede.[9]
3 Aspekte
3.1 Überalterung
Ein 2015 geborenes Kind hat gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren, das bei Verabschiedung von Bismarcks Sozialgesetzen 1889 fast unerreichbar schien, ist heute der Einstieg in einen ca. 30-jährigen Ruhestand – mit allen Nebenwirkungen.[10] Abnehmenden Beitragszahlern steht eine wachsende Gruppe von Rentenempfängern gegenüber. Steigende Sozialleistungen und Ausgaben der öffentlichen Hand werden das Leben für alle schwieriger machen: Im Jahr 2030 werden statistisch voraussichtlich 100 Personen im Erwerbsalter bereits 50 Personen im Alter von 65 oder älter mitfinanzieren.[11]
Entsprechendes gilt für Einnahmen aus Kirchensteuermitteln, allerdings mit dem Faktor exponentieller Entkirchlichung, deren Auswirkungen auf die kirchliche und diakonische Landschaft in Deutschland in keiner Weise absehbar sind.
Steigendes Durchschnittsalter der Gesellschaft bedeutet ferner steigende Nachfrage nach Gesundheitsvorsorge und häuslicher Pflege. Dabei verteilt sich das Alter in Deutschland nicht gleichmäßig auf die Landkreise, sondern macht eine Varianz von +/- fünf Jahren zu beiden Seiten des Durchschnitts aus.[12] In Ostdeutschland liegt der Durchschnitt mit 50 Jahren und älter signifikant höher als im Rest der Republik.[13]
3.2 Langfristiger Rückgang der Fertilität
Kleiner werdende Kohorten[14] von Frauen in gebärfähigem Alter bei stagnierendem bis steigendem Erstgebärendenalter[15] und sinkende Fertilitätsraten[16] werden diese Entwicklungen zusätzlich verschärfen. Profitieren wir in Deutschland augenblicklich noch von relativ starken Geburtskohorten[17], so wird die Kinderarmut bis 2030 durch kleiner werdende Jahrgänge zunehmen. Die Einwohnerzahl Deutschlands (81.459.000 Einwohner[18] im Jahr 2014) wird bis 2030 je nach Szenario um bis zu 4 Mio. abnehmen.[19] Dieser noch relativ geringe Rückgang darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bevölkerungsschwund nicht linear, sondern exponentiell verläuft, sich also zunehmend beschleunigt.[20] Eine Umkehrung dieses Trends wird also je später um so schwieriger zu vollziehen sein. Die größte Unbekannte besteht in der tatsächlichen Geschwindigkeit dieser Vorgänge.
2011 betrug die Zahl der potentiellen Arbeitskräfte in Deutschland 45 Mio. Menschen zwischen 16 und 65 Jahren. Bereits für 2030 schwanken die errechneten Szenarien zwischen 36 Mio. und 41 Mio.[21] Bis 2060 ist ein Bevölkerungsverlust um bis zu 20 Mio. im Rahmen des Möglichen. Dieser Befund hat zahlreiche Auswirkungen: Hier nur zwei davon:
- Politiker und Soziologen fürchten den künftigen Mangel an Fachkräften, die Basis für die starke deutsche Wirtschaft.[22] Dieser Prozess wird zusätzlichen Schub dadurch erhalten, dass ab 2020 die Babyboomer-Jahrgänge[23] sukzessive in den Ruhestand entlassen werden.
- Auch wirtschaftlich wird es zu massiven Verwerfungen kommen: Banken werden die Kleinsparer wegbrechen. Es wird zeitweise zu massiven Überangeboten in allen Wirtschafts- und Lebensbereichen kommen. Heutige Standards wie die Notfallversorgung werden in der Mitte dieses Jahrhunderts nicht mehr zu halten sein, weil die bisherige Personaldecke schrumpfen wird und andererseits der Bedarf ständig wächst.[24] Was ein derartiger Bevölkerungsschwund nicht zuletzt auch soziografisch nach sich zieht, macht zu Recht vielen Bürgern Sorge.
3.3 Migration
Gemeint ist einerseits eine Internationalisierung der Bevölkerung durch Wanderung. Nicht erst durch die aktuellen Flüchtlingsströme erlebt Deutschland derzeit relative Bevölkerungsstabilität dank Immigration. Andererseits wird bereits seit den 1970er-Jahren das Phänomen der Binnenmigration intensiv beobachtet. Während die natürliche Bevölkerungsentwicklung mittels statistischer Formeln relativ genau vorhergesagt werden kann, sind die Umsiedelungsströme innerhalb Deutschlands schwierig vorauszuberechnen. Da diese für die Behandlung dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen, jedoch in der fachlichen Diskussion oft noch zu wenig mitbedacht werden, ist ihrer Analyse ein eigenes Kapitel gewidmet.
[1] Berlin-Institut, Versorgung, 109/110.
[3] N.N., Raumbeobachtung, www.bbsr.bund.de
[4] Vgl. Karte des BBSR unter www.bbsr.bund.de [Stand vom 30.12.2015].
[5] Born, Das Dorf in der Peripherie, 22.
[6] Quelle: www.bbsr.bund.de. Sehr gut erklärt in: Alex/Schlegel: Mittendrin!, 14ff.
[7] Liste der Landkreise in Deutschland, www.wikipedia.de; Zukunftsatlas, www.prognos.com
[8] Diese Einteilung kann sich für die eine oder andere Kommune noch als zu ungenau erweisen. Die Einfügung weiterer Dimensionen in das Achsenkreuz allerdings ginge auf Kosten der Klarheit und Verständlichkeit. Somit stehen sämtliche Erkenntnisse, Postulate und Perspektiven dieser Arbeit unter dem Vorbehalt, dass sich die Situation der Kirchengemeinde vor Ort womöglich wiederum ganz anders darstellt. In diesem Fall sollen und wollen die aufgeführten Überlegungen nicht mehr als die Richtung zur Lösung weisen.
[9] Das hat wiederum zur Folge, dass auch die Lösungsfindung von „Kirche in ländlichen Räumen“ differenzierter geschehen muss als in der Vergangenheit. Allein die Kombination der genannten Merkmale ergeben fast 20 unterschiedliche „Räume“. Die Vielzahl der Räume ist damit unübersehbar komplex geworden. Lösungen sind somit nur schlecht von einem Raum zum anderen übertragbar.
[10] Vgl. Bartsch et al., 2030, 24.
[11] Ebd.
[13] Ebd.
[14] In der Bevölkerungswissenschaft werden Geburtsjahrgänge als „Kohorten“ bezeichnet. Quelle: Kohorte (Sozialwissenschaften), www.wikipedia.de
[15] Alter der Mutter bei Geburt des ersten Kindes. 2014 betrug es 29,5. Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de
[16] Anzahl der Kinder, die in einem bestimmten Zeitraum von Frauen zwischen 15 und 44 (bzw. 49 Jahren) zur Welt gebracht werden. Wert wird angegeben pro 1000 Frauen.
[17] „Relativ stark“, weil es eine Frage des Vergleichswertes ist. In den 1960er-Jahren wurden jedes Jahr über 1 Mio. Babys geboren. 2014 hingegen waren es 714.927 (Stand 10.1.2015). Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de
[18] Offizielle Zahl vom 30.6.2015. Quelle: Statistisches Bundesamt, www.destatis.de.
[19] Jung/Schmergal: Herbsterwachen, 55.
[20] Auf den Punkt gebracht: Menschen, die nicht auf die Welt kommen, können auch keine Kinder in die Welt setzen. Somit fehlen sie in der gesellschaftlichen Entwicklung doppelt.
[21] Jung/Schmergal, Herbsterwachen. 55.
[22] Gegenpositionen: z.B. Mingels, Demokalypse, 45f.
[23] Gemeint sind die seit Kriegsende stärksten Geburtsjahre ab 1955 bis ca. 1965 mit ihrem Spitzen-Jahr 1964 (1,3 Mio. Geburten).
[24] Bartsch et al., 2030, 32.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]