Auswirkungen auf die Kirche
Der demografische Wandel übt schon jetzt den größten Veränderungsdruck auf die Kirche aus, dessen Folgen primär in ländlichen Räumen sichtbar werden. Gedanklich müssen die im folgenden beschriebenen kirchlichen Trends zu den allgemeinen, säkularen Trends addiert werden. D.h. nominell abnehmende Gemeindemitgliederzahlen in ländlichen Räumen rühren selbstverständlich auch daher, dass Menschen wegziehen oder sterben. Erst in zweiter Linie spielen proprietär christlich-kirchliche Fragen eine Rolle.
1 Verstärker Clearing
Wer sich mit dramatischen Abbrüchen bei den Mitgliederzahlen der Evangelischen (und Katholischen) Kirche beschäftigt, sieht sich zunächst mit einer augenfälligen Schweigsamkeit kirchlicher Verantwortlicher konfrontiert. Zwar kehren seit 1950 – verstärkt seit 1970 – jährlich zwischen 0,5 und 1,0% Evangelische ihrer Kirche den Rücken[1], dennoch sucht man in EKD-Veröffentlichungen vergeblich nach der nötigen Vielzahl von Gegenmaßnahmen. Und selbst programmatische Schriften wie Kirche der Freiheit verharren zu sehr im Unkonkreten.[2] In der Katholischen Kirche setzte der massive Einbruch ca. 20 Jahre später, aber nicht minder heftig, ein. Auffällig ist:
- Die Mitgliederentwicklung beider Kirchen läuft seit EKD-Gründung fast parallel, steht also in keiner unmittelbaren Relevanz zur eigenen Arbeit. Evangelische treten als Reaktion auf die Vergehen der Katholischen Kirche aus der eigenen Kirche aus und – seltener – umgekehrt.
- EKD- und landeskirchliche Leitungen reagierten all die Jahre erstaunlich zurückhaltend, ja fast leidenschaftslos. Der Theologe Detlef Pollack formuliert es prägnant und konzis:
Jahrelang sah es so aus, als ob die Kirchen mit der rückläufigen Tendenz ihren Frieden geschlossen hätten. Sei es, dass die Sorge der Kirche um ihren eigenen Bestand als theologisch illegitim verurteilt wurde, dass die Klage der Pfarrer über den mangelnden Gottesdienstbesuch als charakteristisches Merkmal einer jahrhundertealten protestantischen Angst um den Erhalt der Kirche stigmatisiert wurde oder Zahlen zur Messung des Wirkens des Heiligen Geistes für irrelevant erklärt wurden; stets gab man sich der Tendenz hin, die prekäre Lage der Kirche in der modernen Welt zu entdramatisieren […] Selbst die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD, die die distanzierte Kirchenmitgliedschaft als einen die Kirche stabilisierenden Faktor ausfindig gemacht hatten und seitdem die Treue der kirchenfernen verkündeten, trugen zur allgemeinen Beschönigungstendenz, wie sie jahrelang die öffentliche Diskussion in der evangelischen Kirche in Deutschland beherrschte, bei.[3]
In der III.KMU (1992) führte man, wie erwähnt, sogar die „frommen Kirchenfernen“ ins Feld, eine Gruppe von Kirchenmitgliedern, die zwar gottesdienstlich wenig bis gar nicht auftauchen, denen jedoch ein privater, individualistischer Glaube und eine kirchentragende Funktion zugesprochen wurden. Auf diese Gruppe könne und solle sich Kirche verlassen.[4] In der 2012 erschienenen V.KMU ist man von dieser „Vernebelungsrhetorik“ glücklicherweise wieder abgerückt.[5]
Nach wie vor sind in der Öffentlichkeit wenig Klagen evangelischer oder katholischer Oberhäupter zu hören, die die fortdauernde Abwendung von der Kirche beklagen oder gesunde Selbstkritik äußern würden. Diese Haltung begann sich erstmals sichtbar mit der EKD-Synode im November 1999 zu ändern: Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend war die Synode betitelt.[6] Erstmals ist in einem EKD-Beschluss von Mission die Rede: Mission wird wieder als ein Grundwert kirchlicher Arbeit erkannt. Im Gegensatz zur päpstlichen Enzyklika Redemptoris Missio von Papst Johannes Paul II. (1990)[7], die in erster Linie die Wiedergewinnung von Mitgliedern zum Thema hat, verschreibt sich die EKD-Synode einer neuerlichen Annäherung an den missionarischen Auftrag der Kirche[8], was als ein wichtiger Meilenstein in der Ausrichtung der EKD angesehen werden muss.
Dieser Abschnitt ist mit „Clearing“ (d.h. „[Kartei-]Bereinigung“) überschrieben, denn was seit den frühen 1950er-Jahren in Deutschland passiert, darf nicht losgelöst von der Historie interpretiert werden[9] 1918 endete mit dem Ersten Weltkrieg nicht nur das Deutsche Kaiserreich, sondern auch das Staatskirchentum. Seit der Reformation hatte gegolten: Cuius regio, euis religio. Ob evangelisch oder katholisch – Deutscher sein hieß bis dahin Christ sein. Ausnahmen gab es, jedoch war ihre Anzahl vernachlässigbar.[10] In der Weimarer Republik wurde das Verhältnis von Kirche und Staat gelockert und fortan per Staatsvertrag mit den Kirchenleitungen geregelt. Die Verflechtung von Deutschsein und Christentum wirkte dennoch nach. Der entscheidende Bruch der Deutschen mit ihren Kirchen, wenn anfangs auch nur innerlich, erfolgte nach Ende des Dritten Reiches. Die Kirchen hatten fast ausnahmslos versagt, und damit war der Kirchenkritik der Boden bereitet. Daneben zog der Konsum-Materialismus in die Gesellschaft ein und sorgte für neuen Lebenssinn, wogegen der Kirche die Antworten ausgingen.
Seit 1945 bringen die Deutschen ihre innere Distanz auch zunehmend äußerlich durch Austritt zum Ausdruck. Anfangs traten (nur) die Verdiener (in der Regel Männer) aus, der Kirchensteuer wegen. Heute, 70 Jahre später, ist Konfessionslosigkeit eine gesellschaftlich akzeptierte Lebenshaltung geworden. Das Jahr 2014 wird möglicherweise als „Austritts-Katastrophenjahr“ in die Geschichte eingehen. Gegenüber dem Vorjahr stiegen die Austrittszahlen der Landeskirchen um zwei- bis dreistellige Prozentwerte an.[11] Das mag man beklagen. Oder man folgt einer anderen Logik, welche nicht einstimmt in das „Es werden ja immer weniger“. Fatalerweise verführt die Herkunft der Kirche in Deutschland als Staatskirche dazu, im Mitgliederabbruch einen Niedergang zu sehen statt ein längst überfälliges Clearing von Mitgliederkarteien.[12]
Paul Zulehner dazu treffend:
Lesen wir kirchliche Statistiken und beobachten diese über Jahre hinweg, so verwenden wir nach wie vor das an die Konstantinische Ära gebundene Wort ‚nur noch‘. Wir denken, dass es eigentlich 100% sein müssten. Würden wir respektieren, dass die Menschen wählen können und müssen, wäre es angebracht, von 0% hinaufzuzählen. Dann könnten wir jeden, der das Evangelium als innerste Richtschnur seines Lebens und des Zusammenlebens in der zusammenwachsenden Welt wählt, als Wunder betrachten. Es wäre auch die Zeit der jammervollen Kirchendepression vorbei. Wir könnten uns über jeden Dazugewonnenen freuen. Dieser Perspektivenwechsel setzte freilich voraus, dass wir nicht den schrumpfenden Bestand intelligent verwalten, sondern uns auf eine missionarische Gründerphase einstellen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.[13]
Michael Herbst ergänzt: „Ich spitze diesen Gedanken zu: Ist das, was wir erleben, wirklich, tatsächlich, ernsthaft – die Verkleinerung der Gemeinde Jesu auf Erden? Oder wird in all den Abbrüchen nur etwas sichtbar, was eigentlich immer schon war und immer schon unsere Not war?“[14]
Wer sich mit der Genese von Kirchenmitgliedschaft in Deutschland beschäftigt, wird den beiden Theologen nur zustimmen können. Dies öffentlich in Landeskirchenämtern und Synoden zu diskutieren, fordert die Bereitschaft zur Selbstkritik ein. Auf der anderen Seite könnte diese Ehrlichkeit das notwendige Momentum erzeugen, um über wirksame und zielführende Gemeindearbeit zu reden, zu forschen und dafür zu beten. Deutschland ist längst ein Missionsland geworden. Schon diese Formulierung offenbart u.U. einen viel zu lange währenden Irrglauben: dass Deutschland es früher nicht war, weil die Mitgliederzahlen keinen Grund zur Besorgnis gaben.
Auch eine (un-)konfessionell gedrittelte Gesellschaft in Deutschland bedeutet noch lange nicht das Ende der Talfahrt: 24 Mio. Deutsche gehörten 2015 der Katholischen und 23 Mio. der Evangelischen Kirche an.[15] Nichtchristen stellen inzwischen ein gutes Drittel.[16]
2 Verstärker Vernebelung
Die zweite Statistik, von der mehr Ehrlichkeit und Mut zur unbequemen Wahrheit erwartet werden muss, ist die der Gottesdienst-Besucherzahlen. Dass sich die jährliche Statistik auf fünf sogenannte – mittelmäßig bis sehr gut frequentierte – Zählsonntage stützt, ist den meisten Evangelischen nicht bewusst. Es werden also keine Längs-Durchschnittswerte erfasst (also die Besucherzahlen geteilt durch die Anzahl der Sonntage), sondern die Besuchszahlen von Invokavit, Karfreitag, Erntedank (mit zahlreichen Beteiligungen durch Kindergärten), 1. Advent und Heilig Abend.
Da die Zählsonntage jedes Jahr dieselben sind, sind zwar Vergleiche möglich und Trends auszumachen, aber aus diesen Zahlen eine valide Beteiligungsquote abzuleiten, geht an der Realität vorbei. So aber wähnt man sich als Kirche einer immer noch halbwegs guten, leider geschönten Gemeinde-Gesundheit. Es ist bekannt, dass Veränderungen in einem System erst dann von allen Beteiligten akzeptiert werden, wenn dafür ein allgemeines Gefühl von Dringlichkeit besteht.[17] Wenn aber von den Kirchenleitungen erstens 5% Gottesdienstbesuch laut Statistik als guter Wert bezeichnet wird, sich dieser Wert aber zweitens nicht einmal entfernt als valide erweist, dann hat man die kirchliche Öffentlichkeit und sich selbst um wertvolle Jahre gebracht, um kirchliche Strukturen in eine zukunftsfähige Richtung zu lenken.
Wer sich also fragt, warum erst jetzt zunehmend gegenzusteuern versucht wird, stößt hier auf einen veritablen Fundus an Antworten. Die Erklärungen dafür überzeugen nicht, ernten aber bei denen, die davon erfahren, Kopfschütteln.
3 Verstärker Irrelevanz
Es ist nicht leicht, das Thema „Glauben“ in der Gesellschaft wachzuhalten, ja, zu präsentieren, die schon lange nicht mehr wie Luther nach dem gnädigen Gott fragt. Selbst die erste Frage aus dem Heidelberger Katechismus nach dem einzigen Trost im Leben und im Sterben findet bei vielen Zeitgenossen – vor allem im Osten der Republik – wenig Anknüpfungspunkte. Dabei ist die vorgegebene Antwort auch heute verständlich, nur geht sie an der Lebenswelt der Menschen des 21. Jh.s komplett vorbei. Erfahrungen des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG, mit Sitz in Greifswald) mit der örtlichen Bevölkerung in puncto Glauben schwanken zwischen Ignoranz, Indifferenz und Interesse. [18]
Andererseits beklagen selbst die religiös Aufgeschlossenen unter den Zeitgenossen methodische und grundsätzliche Sackgassen in der evangelischen Kommunikation des Evangeliums, die ihnen das Interesse an der Beschäftigung mit demselben verleiden:
- Predigten, die i.d.R. ohne anschließende Aussprache, Glaubenssätze als Setzung präsentieren.
- Beschränkung der Predigt aufs Hören – und das in einer medial geprägten Zeit.
- Kirchengebäude, Gottesdienste und Orgelmusik als Elemente eines Submilieus, das nicht jedem liegt.
4 Verstärker Pfarrerzentrierung
Als äußerst problematisch wird sich in Zukunft die Koppelung der Gemeindearbeit bzw. des Gemeindeaufbaus an die „dienstliche Inanspruchnahme“, d.h. Pfarrstellen-Prozente, erweisen. In der Regel ist es so: Solange „im Pfarrhaus Licht brennt“, gilt die gemeindliche Versorgung als gesichert. Gemeinden und ihre Mitglieder fühlen sich versorgt, und je nach Prägung und Milieu fühlen sie wenig Anlass, sich mehr zu engagieren. Ehrlicherweise sei an dieser Stelle gesagt, dass auch von Seiten der Evangelischen Kirche viel dazu getan wurde, die Pfründe der Geistlichkeit zu sichern. Die Unterscheidung zwischen Geistlichen und „Laien“ (soll heißen: den Ehrenamtlichen) ist nicht nur ein Erbe aus der mittelalterlichen Dichotymie von Geistlichkeit und Laienbrüdern, sondern wird in manchen landes- und freikirchlichen Kreisen bis heute als Machtinstrument gezielt gepflegt.[19]
Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht mehr, wenn sich Kirchenvorstände, denen das Allgemeine Priestertum aller Glaubenden stolz als Lösung kirchlicher Engpässe präsentiert wird,[20] vielmehr als „Ausputzer kirchlicher Lücken“[21] missbraucht fühlen. Das Aufeinandertreffen von Amtsverständnis und gemeindlichem Selbstverständnis ist eines der zentralen Themen, die geklärt werden müssen, will man am Ende umsetzbare Lösungen haben. Ansonsten laufen beide Seiten Gefahr, in eine tückische Falle zu tappen:
- Auf der einen Seite der Pfarrer, der sich, teilweise bis zur Selbstaufgabe, für seine Gemeinde engagiert.
- Auf der anderen Seite die Christenmenschen, die darüber froh sind, dass wenigstens der Pfarrer die Menschen im Dorf und deren Nöte im Blick hat. Solange im Pfarrhaus Licht brennt, kann man entspannt davon ausgehen, dass im Ort [wieder] gebetet werde.
Kritisch wird es jedoch, wenn die Stellenkürzungsdebatten die beschriebene Gemeinde treffen. Denn wenn eine derartig pfarrerbezogene Gemeinde Dienst-Prozente verliert, wird in der Regel auch das Gemeindeleben um etwa denselben Prozentsatz sinken. Bei einer derartig starken Gleichsetzung von „Pfarrer vor Ort“ mit „Gemeindearbeit“ kann es nicht anders sein. Gemeinden, die diesen Zusammenhang nicht erkennen (wollen) oder nicht angemessen darauf reagieren, riskieren, offenen Auges dem eigenen Untergang entgegenzusteuern. Sicher ist: Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Pfarrstellenrückbau auch sie trifft. Also ist es das Gebot der Stunde, solche Gemeinden auf ihre falsche Grundüberzeugung hinzuweisen und in einem moderierten Prozess neue Perspektiven zu erschließen:
5 Verstärker Pfarrermangel
Was die Zukunft des Pfarramtes und die Besetzung der Pfarrstellen nach 2020 betrifft, gibt es zwei entgegengesetzte Prognosen, die auch beide in der Öffentlichkeit verlautbart werden:
- Die Kirchenverwaltungen zittern vor den kommenden Jahren, da seit 2015 die Babyboomer-Jahrgänge[22] in den Ruhestand gehen werden. Mit diesen starken Alterskohorten werden auch überdurchschnittlich viele Pfarrer aus dem aktiven Dienst ausscheiden.
- Trotz der Ausführungen unter Punkt 1 könne von einem bevorstehenden Pfarrermangel keine Rede sein.[23]
Tatsächlich haben EKD und einzelne Landeskirchen einige Maßnahme ergriffen, um dem personellen Engpass (der simultan auch die katholische Kirche trifft, aber härter) Herr zu werden: In Marburg ist z.B. ein nichtkonsekutiver M.A.-Studiengang Ev. Theologie entwickelt worden, um „Spätberufene“ ins Pfarramt zu lotsen.[24] Andernorts werden über Strukturveränderungen Gemeinden zusammengelegt und Pfarrstellen gestrichen, um einerseits die sinkende Nachfrage und andererseits den mittelfristig schrumpfenden Personal-Pool aufeinander zu zu bewegen. Des weiteren wurden sogenannte Funktions-Pfarrstellen zeitweise gekürzt oder künftig mit einem Diakon besetzt, um personell flexibler agieren zu können. Ob alle geplanten Maßnahmen den erwarteten Erfolg zeitigen werden, wird sich erweisen müssen.
Auf ca. 17.000 evangelische Pfarrhäuser in knapp 15.000 Kirchengemeinden[25] in Deutschland verteilen sich heute noch rund 14.000 evangelische Theologen. Um die Pensionierungswelle auszugleichen, fehlt der qualifizierte Nachwuchs. Waren es Mitte der 1980er-Jahre noch rund 12.000 Theologiestudenten, so sind es heute nur noch knapp 2.300.[26] Und längst nicht jeder Theologiestudent studiere mit dem Ziel des Gemeindedienstes, allein schon wegen der fehlenden Freizügigkeit, berichtet der Münchner Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Friedhelm Wilhelm Graf. Sie nehmen Anstoß an mittelmäßiger Bezahlung für einen akademischen Beruf und an komplizierten Landeskinder-Regelungen[27], die eine bundesweite Bewerbung behindern. Somit halten die wenigen noch verbliebenen Theologiestudenten längst nach anderen Arbeitgebern Ausschau. Ihr Ziel sei die Medien- und Werbebranche, die Personalabteilungen großer Konzerne. „Wir erleben einen massiven brain drain von guten Theologen in andere Berufe.“ Die Landeskirchen böten jungen Menschen kaum Anreize, sich auf das Berufsfeld Pfarrer einzulassen, so Graf.[28]
6 Schrumpfungs-Spirale
Für den demografischen Wandel wie auch die davon geprägten kirchlichen Veränderungen scheint es symptomatisch, dass wir es hier ausnahmslos mit sich selbst befeuernden Abwärtsspiralen zu tun haben: Beim demographischen Wandel ging und geht es um die Auswirkungen des steigenden Durchschnittalters auf die Gesellschaft. Nach aktuellem Stand ist keine Veränderung der Wanderungs- und Wandel-Trends in Sicht. Trend-Städte bleiben Trend-Städte, ja, werden es noch viel mehr werden.
Das Leben auf dem Land oder gar in der Peripherie wird nur weiter zurückfallen, weil immer dieselben harten – meist wirtschaftlichen – Fakten in der Öffentlichkeit ventiliert werden: In diesem Ranking geht es allein um Innovation, Mobilität, Kontakte, Karriere und Kultur; also um die großen Stärken urbaner Kultur. Verschwiegen werden in diesem Zusammenhang Negativmarker wie Enge, Lärm, Kriminalitätsrate, Umweltverschmutzung, Wohnungsnot – größere Stressoren in vielerlei Hinsicht. Aber es dominieren die wirtschaftlichen Werte, die das Wohnen in den Städten ins gute Licht rücken und das Leben auf dem Land als Auslaufmodell zeigen. Dadurch geraten die ländlichen und peripheren Räume zunehmend unter Druck, und es kostet fast übermenschliche Anstrengungen, dem Abwärtsstrudel, der ihre Vorzüge zunehmend an den Rand drängt und als irrelevant und unattraktiv abtut, zu entkommen.
Aber alles hat seinen Preis, und für die Vorzüge des urbanen Lebensstils sind steigende Kosten fällig. Zu einer Strategie für ländliche Räume und Kommunen könnte es gehören, gerade das Anderssein als Alleinstellungsmerkmal hervorzuheben. Stille, Weite, Langsamkeit werden in heutiger Zeit mehr und mehr als Wert an sich und als Therapeutika entdeckt.
Das Leben auf dem Land ist mehr als das Sanatorium stressgeplagter Städter. Es ist an der Zeit, dass ländliche Kommunen sich nicht mehr von der städtischen Perspektive vereinnahmen lassen, sondern ihre Vorzüge kennen und kommunizieren, auch wenn sie sich nur auf Umwegen in das Korsett volkswirtschaftlicher Kennzahlen pressen lassen. Im Kielwasser dieser soziografischen Entwicklungen bewegt sich auch Kirche.
[1] Vgl. Pollack, Kirchenmitgliedschaft, 75. In absoluten Zahlen entspricht das einem augenblicklichen Mitgliederschwund von ca. 150.000 p.a.
[2] Die Maxime vom „Wachsen gegen den Trend“ hingegen musste schon damals angesichts der demografischen Prognosen als schöne, aber unerreichbare Utopie erscheinen.
[3] Pollack, Kirchenmitgliedschaft, 68.
[4] EKD, III.KMU, 6ff.
[5] EKD, V.KMU, 130. Herbst, Neuland, 6.
[6] EKD, Synode 1999, www.ekd.de
[7] Johannes Paul II., Redemptoris Missio.
[8] „Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland bittet die Gemeinden, die Leitungsgremien, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und alle Christen, sich in dieser Perspektive neu auf ihren missionarischen Auftrag zu besinnen.“ In: N.N., Kundgebungsentwurf, www.ekd.de
[9] Vgl. den lesenswerten Artikel aus konfessionsloser Sicht: Neumann, Die Kirchen vorher und nachher, www.ibka.org
[10] Kirchenaustritt ist überhaupt erst seit 1847 (Toleranzedikt Friedrich Wilhelm IV. von Preußen) möglich.
[11] Grund für den drastischen Zuwachs war die direkte Abführung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge durch die Banken. Kirchenmitglieder wurden nicht ausreichend informiert und traten aus Ärger reihenweise aus. Einige Austritts-Zahlen (Zuwächse gegenüber 2013): EKBO: 17.867 (+44%); Bayern 30.600 (+62%); Sachsen: 12.000 (+250%); Anhalt: 615 (+300%). Quelle: Ideaspektrum 6.2015, 9.
[12] Vgl. Herbst, Neuland, 11.
[13] Zulehner, Wir sind Teil eines Anfangs.
[14] Vgl. Herbst, Neuland, 11.
[15] Anzahl der Mitglieder in Religionsgemeinschaften in Deutschland im Jahr 2015 (in Millionen), www.statista.com
[16] Konfessionslose und Anhänger anderer Religionen. Quelle: www.statista.de
[17] Kotter/Rathgeber, Pinguin-Prinzip, 135
[18] Vgl. Clausen, Bekennen, 247ff.
[19] Nachdem es in den 1990er- bis 2010er Jahren in Deutschland verstärkt Anläufe gab, diese Unterscheidung abzubauen oder zumindest auf das Wort „Laie“ zu verzichten, nehme ich zzt. – u.a. bedingt durch Einflüsse aus der Anglikanischen Kirchen im Rahmen von Fresh X – eine sprachliche Rückwärtsbewegung wahr.
[20] PPT-Präsentation des ZMIR über die Studie „Landaufwärts“, 2015.
[21] Zitat eines mir bekannten Kirchengemeinderates.
[22] Im Jahr 1964, dem geburtsstärksten Jahrgang seit Bestehen der Bundesrepublik, wurden in Deutschland 1.357.304 Kinder geboren. Zum Vergleich: Deutschland (2013): 682.069. Quelle: www.destatis.de
[23] Wobei immer zu definieren bzw. genau gelesen werden muss, was mit „Mangel“ gemeint ist. Vgl. epd im Evangelisches Gemeindeblatt 29/2015, 20, wo die Faktoren Mitglieder, Finanzkraft, Theologennachwuchs und demografische Entwicklung zusammengebracht und –gedacht werden sollen. In Strategien wie der Personal-Struktur-Planung (PSP) der Württembergischen Kirche wird versucht, die unterschiedlichen Parameter für unterschiedliche Szenarien berechenbar zu machen.
[24] www.uni-marburg.de. Ähnliche Zugänge gibt es in Heidelberg, Neuendettelsau, Hermannsburg u.a.
[25] Rebenstorf et al., Potenziale, 45.
[26] Vgl. EKD, Statistiken im Anhang.
[27] D.h. der Wohnort zur Zeit des Schulabschlusses bestimmt die Landeskirche, innerhalb derer man das Theologieexamen ablegt und in deren Dienst man vorerst tritt.
[28] N.N:, Licht aus im Pfarrhaus, www.evangelisch.de